Dammbruch im Massnahmenrecht?
Das Bundesgericht heisst eine Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft ZH gut, die einen obergerichtlich verurteilten Vergewaltiger verwahrt sehen will (BGE 6B_28/2017 vom 23.01.2018, Publikation in der AS vorgesehen). Wenn ich es richtig sehe, ist das Urteil aber weniger für die Verwahrung relevant, sondern stellt vielmehr einen Dammbruch für die kleine Verwahrung dar. Ich hoffe nur, dass ich den Entscheid falsch verstehe.
Das Obergericht hat eine Freiheitsstrafe von zehneinhalb Jahren verhängt, aber auf eine Verwahrung verzichtet, weil das erstellte forensisch-psychiatrische Gutachten dafür keine genügende Entscheidungsgrundlage sein konnte.
Eine stationäre Massnahme war bereits deshalb nicht möglich, weil der Täter gemäss einem Gutachten – aus medizinischer Sicht – nicht an einer schweren psychischen Störung leidet:
Zwar spricht sich das Gutachten zu Fragen der Massnahmen nach Art. 59 und 63 StGB aus, insbesondere zur (nicht vorhandenen) schweren psychischen Störung, zur Behandelbarkeit sowie zur Legalbewährung und zur Rückfallgefahr. So diagnostiziert es beim Beschwerdegegner narzisstische und antisoziale Persönlichkeitszüge, die allerdings nicht die diagnostische Schwelle einer Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 oder DSM-5 erreichen, weshalb die Anordnung einer Massnahme nach Art. 59 beziehungsweise 63 StGB aus psychiatrischer Sicht ausscheide. Dennoch bestehe zwischen diesen Persönlichkeitszügen, seiner Lebenssituation und seiner Delinquenzentwicklung ein komplexes Bedingungsgefüge, das im Rahmen einer deliktorientierten forensisch-psychiatrischen Behandlung angegangen werden könnte, um die hohe Gefahr erneuter (leichter bis schwerer) Gewalt- und Sexualdelikte zu senken. Die Erfolgsaussichten einer Psychotherapie seien allerdings aufgrund der fehlenden Problemeinsicht, der fehlenden Veränderungsmotivation, der geringen Introspektions- und Reflektionsfähigkeit und der Fremdsprachigkeit des Beschwerdegegners gering (E. 3.4, Hervorhebungen durch mich).
Jetzt wird das Obergericht nicht darum herumkommen, ein neues Gutachten zu bestellen, das eine Legalprognose ins Verhältnis zu den Persönlichkeitsmerkmalen des Täters, der Tatumstände und seiner gesamten Lebensumstände setzen soll (Art. 64 Abs. 1 lit. a StGB), denn es geht ja eigentlich nur um die Verwahrung. Das Bundesgericht ahnt aber offenbar bereits, dass eine Verwahrung nicht in Frage kommen wird und öffnet ein Türchen, das eigentlich bereits prozessual nicht mehr zu öffnen ist, eine stationäre Massnahme:
Sollte das neue oder ergänzte psychiatrische Gutachten die für die Anordnung einer therapeutischen oder sichernden Massnahme massgebenden Faktoren (psychische Störung, Rückfallgefahr, Behandlungsbedürftigkeit und Behandlungsfähigkeit) anders beurteilen als das vorliegende Gutachten, steht es der Vorinstanz frei, die Anordnung weiterer Massnahmen gemäss Art. 59-61 und 63 StGB zu prüfen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Frage der rechtlichen Relevanz der medizinischen Diagnose juristischer Natur ist (vgl. Urteil 6B_993/2013 vom 17. Juli 2014 E. 4.6). Die Beurteilung, ob eine vom psychiatrischen Sachverständigen diagnostizierte psychische Störung als schwer im Sinne von Art. 59 Abs. 1 und Art. 63 Abs. 1 StGB zu qualifizieren ist, obliegt daher dem Gericht (E. 3.4, Hervorhebungen durch mich).
Das Bundesgericht scheint es somit für möglich zu halten, eine diagnostisch nicht relevante Persönlichkeitsstörung rechtlich als schwer i.S.v. Art. 59 StGB zu qualifizieren. Klar war bisher eigentlich nur der umgekehrte Fall, nämlich dass eine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 oder DSM-5 aus rechtlicher Sicht noch lange keine schwere psychische Störung bedeuten muss. Neu ist, dass eine medizinisch diagnostizierte Persönlichkeitsstörung (oder auch eine blosse Akzentuierung der Persönlichkeit für eine stationäre Massnahme reichen könnte. Ich kann nur hoffen, dass ich diesen Entscheid missverstanden habe.
Heutzutage gilt wohl einfach: Besser mal einen zu viel wegsperren als einen zu wenig. Meines Wissens hat das Bundesgericht die öffentliche Meinung ja immer schon in die Rechtsprechung einfliessen lassen und sich nicht immer stur ans Gesetz gehalten. Der Rechtssicherheit ist das natürlich abträglich…