Das bestätigte Ende der Unschuldsvermutung
Erneut heisst das Bundesgerichts eine Beschwerde der Strafverfolgungsbehörden wegen willkürlicher Beweiswürdigung gut (BGer 6B_17/2016 vom 18.07.2017, Fünferbesetzung, ohne öffentliche Verhandlung, Verfahrensdauer vor Bundesgericht über anderthalb Jahre?).
Das Urteil kommt überspitzt gesagt zum Ergebnis, dass es Freisprüche in dubio pro reo nicht geben darf :
Die vorinstanzliche Beweiswürdigung verstösst gegen Bundesrecht und ist willkürlich. Das Gericht ist grundsätzlich verpflichtet, das vorhandene Beweismaterial – soweit entscheiderheblich – umfassend auszuwerten. Eine nur teilweise Ausschöpfung der Beweise ist keine Basis, auf der sich das Gericht eine abschliessende Überzeugung bilden darf (…). Die beschuldigte Person ist in Anwendung des Grundsatzes “in dubio pro reo” nur dann freizusprechen, wenn nach einer Gesamtwürdigung aller erheblichen Beweise nicht zu unterdrückende Zweifel am Anklagevorwurf verbleiben (vgl. Urteil 6B_288/2015 vom 12. Oktober 2015 E. 1.5.3; JÜRG MÜLLER, Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung im Strafprozess, Diss. ZH 1992, S. 99) [E. 1.4.1].
Selbst wenn man dem noch zustimmen könnte: in der Folge setzt das Bundesgericht seine Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen der Vorinstanz. Die Willkür, die es der Vorinstanz vorwirfst, besteht offenbar nicht in der konkreten Beweiswürdigung, sondern im falschen Verständnis von “in dubio pro reo”. Auch so kann man die Willkürschwelle nehmen. Das Bundesgericht macht auf Beschwerden der Staatsanwaltschaft hin genau das, was es auf Beschwerden der Verurteilten nicht zu dürfen betont.
Mag sein, dass das BGer seine Kognition überschritten hat. Aber was hat das mit dem Ende der Unschuldsvermutung zu tun? Die rechtlichen Erwägungen dazu sind mE nicht überraschend oder wie Sie es andeuten, vertretbar.
“Die beschuldigte Person ist in Anwendung des Grundsatzes “in dubio pro reo” nur dann freizusprechen, wenn nach einer Gesamtwürdigung aller erheblichen Beweise nicht zu unterdrückende Zweifel am Anklagevorwurf verbleiben.” Schon dieser Satz ist kritisch zu würdigen, weil er eigentlich Schuldvermutung zum Ausdruck bringt. Ich würde ihn so formulieren: Die beschuldigte Person ist […] nur dann zu verurteilen, wenn der Anklagevorwurf nach einer Gesamtwürdigung der Beweise […] jenseits vernünftiger Zweifel nachgewiesen ist.
Wenn man bei der Formel des Bundesgerichts jetzt noch beachtet, dass es “in dubio” nur auf Willkür hin prüft, ist die Vorinstanz faktisch nicht mehr daran gebunden. Es ist praktisch nie willkürlich, nicht mehr am Anklagevorwurf zu zweifeln und somit nicht freizusprechen.
Der zitierte Satz scheint auch zu wenig zu würdigen, dass es noch die Beweislastfunktion von “in dubio” gibt, zumal der Richter gemäss BGer ja selbst auch diejenigen Beweise erheben muss, die der Staatsanwalt nicht erhoben hat. Das tönt nach Beweiserhebung, bis zum Ende und das Ende heisst Verurteilung.
Vielen Dank für Ihre Antwort. Ich sehe Ihre Bedenken durchaus. Allerdings erscheint mir die Forderung nach nicht zu unterdrückenden Zweifeln legitim, denn: was das BGer dabei mE nicht ausführt ist, dass es zuerst selbstverständlich ein Beweisergebnis gegen den Beschuldigten braucht. Nur wenn überhaupt ein solches vorliegt, wird anhand dieser Formel geprüft, ob nicht doch “nicht zu unterdrückende Zweifel” vorliegen, welche den Anklagevorwurf zu Fall bringen (müssen). So gesehen handelt es sich mE nicht um eine Schuldvermutung, sondern um die Aussage, dass nicht jeder beliebige Zweifel zugelassen werden kann. Trotzdem ist bzw. soll die Unschuldsvermutung stärker sein als ein klassischer Gegenbeweis, welcher seinerseits noch lange nicht der Beweis des Gegenteils ist.
Ein Gericht kann den Angeklagten nur dann schuldig sprechen, wenn dessen Schuld über jeden nicht zu unterdrückenden (genauer: jeden vernünftigen) Zweifel erwiesen ist. Dieser Beweis ist eine Voraussetzung, eine notwendige Bedingung, für den Schuldspruch. Hinreichend ist sie nicht. Der Umkehrschluss, dass ein Angeklagter schuldig zu sprechen sei, wenn das Gericht keinen vernünftigen Zweifel an seiner Schuld hat, ist nicht zulässig. Ein Gegenbeispiel ist ein Prozess mit einem Verfahrenshindernis, das einen Schuldspruch selbst bei zweifelsfrei erwiesener Schuld immer verhindert.
Indem das Gericht ihn im dritten Satz von E1.4.1 mit den Worten “nur dann freizusprechen” trotzdem zieht und auf ihn gestützt die Beschwerde in diesem Punkt nicht gutheisst, verletzt es Bundesrecht.
Ergänzung zu den Verweisen: Die beiden Referenzen, die das Gericht im gleichen Satz aufführt, sind (1) das Selbstzitat 6B_288/2015 E1.5.3 und (2) die Seite 99 einer Dissertation von 1992. (1) enthält den gleichen Fehlschluss (“Nur wenn nach einer Gesamtwürdigung (der Beweise) nicht zu unterdrückende Zweifel am Anklagevorwurf verbleiben, ist die beschuldigte Person freizusprechen”, a.a.O), erwartungsgemäss ohne Referenz. (2) liegt mir nicht vor. Die beiden von mir gefundenen (2) zitierenden letztinstanzlichen Urteile beziehen sich aber beide übereinstimmend auf die Ablehnung von starren Beweisregeln (1P.8/2002, E4.3.1 für S. 99f, 1P.680/2001 E3.4 ebenfalls für S. 99f). Ein Hinweis darauf, dass (2) den obigen Fehlschluss enthalte, ist ihnen nicht zu entnehmen.