Das Bundesgericht als Bundesverfassungsgericht?
NZZ am Sonntag (kostenpflichtig) berichtet über eine neue parlamentarische Initiative, die das Bundesgericht (endlich) zu einem vollwertigeren Verfassungsgericht ausbauen will, indem die konkrete Normenkontrolle auch bezüglich Bundesgesetzen eingeführt werden soll. Der Initiativtext lautet wie folgt:
Bundesverfassung massgebend für rechtsanwendende Behörden
Artikel 190 der Bundesverfassung betreffend das massgebende Recht sei dahingehend abzuändern, dass das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden nicht gezwungen sind, Bestimmungen eines Bundesgesetzes, die verfassungswidrig sind, anzuwenden.
Aus der Begründung zitiere ich hier Ausschnitte, aus denen erhellt, dass die Schweiz nicht als Musterbeispiel für einen modernen Rechtsstaat gelten kann:
Nach Art. 190 BV sind Bundesgesetze und das Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend. Weshalb wird hier nicht auch die Bundesverfassung genannt? Es erstaunt sehr, dass die von Volk und Ständen beschlossene Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft nicht massgebend sein soll.
Dies kann dazu führen, dass die Bundesverfassung toter Buchstabe bleibt und die betroffenen Rechtsuchenden ins Unrecht versetzt werden, obwohl die in der Bundesverfassung verbrieften Grundrechte ihnen Recht geben. Unbeachtet bleibt dabei auch, dass Verfassungsbestimmungen durch das obligatorische Referendum und das Ständemehr stärker legitimiert sind als Gesetzesbestimmungen, welche bloss dem fakultativen Referendum unterstehen […].
Die Grundrechte der Bundesverfassung müssen Bürgerinnen und Bürger in jedem Fall vor ungerechtfertigten Eingriffen, Einschränkungen und Ungleichbehandlungen des Staates schützen, will die Glaubwürdigkeit unseres Rechtsstaates bewahrt werden. Dies ist zu gewährleisten, indem Bundesgesetze nicht weiter der Bundesverfassung vorgehen. Vielmehr ist das Bundesrecht unter Einschluss der Bundesverfassung als massgebend zu erklären, ebenso wie bisher das Völkerrecht. In diesem Sinne soll Art. 190 BV geändert werden.
Laut NZZaS ist die Initiative quer durch alle politischen Lager abgestützt – mit Ausnahme der SVP, welche wohl mangels genügend eigener Richter den Richterstaat fürchtet und dafür in Kauf nimmt, dass die Bundesverfassung, die doch vom Volk auch angenommen wurde, im Einzelfall nicht angewendet werden darf.