Das Bundesgericht als Superstaatsanwaltschaft

Im Kanton Bern wurde das Strafverfahren gegen einen Mann eingestellt, dem sexuelle Handlungen an seinem vierjährigen Sohn vorgeworfen worden waren. Die Einstellung wurde damit begründet, dass der Sohn zweimal befragt wurde, ohne konkrete sexuelle Handlungen zu beschreiben. Weitere Einvernahmen seien weder beantragt noch sei anzunehmen, sie seien zielführend. Hingegen sei der Konfrontationsanspruch des Vaters absolut und nicht verwirkt. Der von der Mutter gesetzlich vertretene Sohn zog den Einstellungsentscheid bis nach Lausanne weiter. Das Bundesgericht heisst nun seine Beschwerde gut (BGer 1B_531/2012 vom 27.11.2012). Es stützt sich dabei auf den Bericht eines Kinderpsychologen, der erst nach dem angefochtenen Entscheid erstellt wurde. Das Novenverbot umgeht das Bundesgericht mit dem Grundsatz des Verfolgsungszwangs. Eigentlich setzt es aber einfach seinen gesunden Menschenverstand an die Stelle des Rechts:

Aufgrund des neuen Beweismittels würde jedenfalls Anlass für eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens im Sinne von Art. 323 StPObestehen. Das neue Beweismittel enthält Tatsachen, die für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschwerdegegners sprechen und die sich nicht aus den früheren Akten ergeben (Art. 323 Abs. 1 lit. a und b StPO). Nach Art. 7 Abs. 1 StPO sind die Strafbehörden verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit ein Verfahren einzuleiten und durchzuführen, wenn ihnen Straftaten oder auf Straftaten hinweisende Verdachtsgründe bekannt werden (Verfolgungszwang). Ausserdem nehmen die Strafbehörden die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und bringen sie ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss (Beschleunigungsgebot, Art. 5 Abs. 1 StPO). Im Lichte dieser Grundsätze kann der Bericht des Kinderpsychologen im bundesgerichtlichen Verfahren nicht unberücksichtigt bleiben. Da dieser deutliche Hinweise für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschuldigten enthält, erscheint die Einstellung des Strafverfahrens nicht gerechtfertigt (E. 2.3).

Das Bundesgericht ist sich einmal mehr nicht zu schade, sich als Strafverfolgungsbehörde zu gebärden. Und als ob die zuständige Staatsanwaltschaft, an die das Bundesgericht die Sache direkt zurückweist, die anwendbaren Regeln nicht kennen würde, gibt es ihr – bzw. der Mutter zwecks Einreichung eines Gegenüberstellungsantrags – noch folgende Überlegungen zum Konfrontationsanspruch auf den Weg:

In diesem Zusammenhang ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass eine Gegenüberstellung mit der beschuldigten Person nur angeordnet werden darf, wenn das Kind die Gegenüberstellung ausdrücklich verlangt oder der Anspruch der beschuldigten Person auf rechtliches Gehör auf andere Weise nicht gewährleistet werden kann (Art. 154 Abs. 4 lit. a StPO). Es ist Aufgabe der zuständigen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, den Gehörsanspruch des Beschwerdegegners in angemessener Weise unter Berücksichtigung der Interessen des Kindes zu erfüllen. Dabei ist es in Anwendung von Art. 154 Abs. 4 lit. a StPO grundsätzlich nicht notwendig, eine direkte Konfrontation des Kindes mit der beschuldigten Person durchzuführen (…). Weiter ist zu beachten, dass das Kind während des ganzen Verfahrens in der Regel nicht mehr als zweimal einvernommen werden darf (Art. 154 Abs. 4 lit. b StPO). Ob eine weitere Einvernahme in der vorliegenden Angelegenheit infrage kommt, werden die zuständigen Behörden mit Rücksicht auf das Wohl des Kindes und das Interesse an der Wahrheitsfindung zu beurteilen haben (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_495/2011 vom 18. Oktober 2011 E. 1.2; STEFAN WEHRENBERG, a.a.O., N. 16 zu Art. 154 StPO) [E. 2.4].