Das Bundesgericht bestätigt ein offensichtliches Fehlurteil

Im Kanton Zug ist ein Automobilist wegen Rechtsüberholens auf einer Autobahn der fahrlässigen groben Verletzung der Verkehrsregeln schuldig gesprochen worden (Art. 90 Abs. 2 i.V.m. Art. 35 SVG). Das Bundesgericht stellt fest, dass diese rechtliche Würdigung von Vornherein ausgeschlossen ist und dass die Erwägungen zum subjektiven Tatbestand bundesrechtswidrig seien. Das hindert das Bundesgericht aber nicht daran, das Urteil zu bestätigen (BGer 6B_1/2020 vom 06.05.2021, Fünferbesetzung):

Soweit der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe sein Verhalten zu Unrecht als rücksichtslos eingestuft, gehen seine Vorbringen im Ergebnis an der Sache vorbei, auch wenn die vorinstanzlichen Erwägungen zum subjektiven Tatbestand sich als bundesrechtswidrig erweisen. Ein Schuldspruch wegen fahrlässiger Begehung von Art. 90 Abs. 2 SVG ist vorliegend von vornherein ausgeschlossen, da sich der Beschwerdeführer nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz der Gefährlichkeit seines Handelns bewusst war und in Kenntnis des Verbots, rechts zu überholen, sein Überholmanöver durchgeführt hat, mithin sowohl in Bezug auf die grobe Verkehrsregelverletzung als auch auf eine erhöhte abstrakte Gefahr vorsätzlich gehandelt hat. Dass der Beschwerdeführer gemäss Vorinstanz (in Anwendung des Grundsatzes “in dubio pro reo”) aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit leichtfertig darauf vertraut hat, es werde schon nicht zu einem Unfall kommen, ist im Hinblick auf den objektiven und subjektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG irrelevant, da der tatbestandliche Erfolg im Eintritt der erhöht abstrakten Gefahr oder deren Inkaufnahme liegt. Art. 90 Abs. 2 SVG verlangt gerade nicht, dass es zu einem Unfall kommt. Der Beschwerdeführer ist durch die falsche Rechtsanwendung jedoch nicht beschwert. Die Qualifizierung seines Verhaltens als rücksichtslos begegnet aufgrund des vorsätzlichen Handelns – und zwar sowohl hinsichtlich der Verkehrsregelverletzung als auch der damit verbundenen Gefahr – keinen Bedenken und der Schuldspruch wegen fahrlässiger anstatt vorsätzlicher Tatbegehung erweist sich für ihn als milder (E. 4.2). 

Kritisch sind auch die Ausführungen des Bundesgerichts zum Anklageprinzip. Die Staatsanwaltschaft hatte nämlich nach Einsprache des Automobilisten ohne Weiteres Anklage erhoben, statt den Strafbefehl zu überweisen. Das ist nach meinem Verständnis der Rechtsprechung an sich aber gar nicht zulässig, was das Bundesgericht selbst auch im vorliegenden Entscheid bestätigt, allerdings nur in Bezug auf die Konstellation mit einem neuen Strafbefehl:

Voraussetzung für die Änderung des ursprünglichen Strafbefehls im Schuld- und/oder Strafpunkt ist gemäss Rechtsprechung und herrschender Lehre eine veränderte Beweis- und/oder Rechtslage. Verlangt wird, dass die Modifikation des Schuldspruchs und/oder der Sanktion auf eine geänderte Sach- und/oder Rechtslage zurückzuführen ist (BGE 145 IV 438 E. 1.3.3 mit Verweisen auf die Lehre). Damit wird die Möglichkeit der Neubeurteilung durch die Staatsanwaltschaft im Einspracheverfahren trotz fehlenden Verbots der reformatio in peius zugunsten des Einsprechers eingeschränkt und die Staatsanwaltschaft darf aufgrund des in Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO verankerten Fairnessgebots bei unveränderter Sachlage folglich keinen neuen Strafbefehl mit einer schärferen Sanktion erlassen (E. 1.2). 

Das soll aber nun aber trotz unveränderter Sach- und Rechtslage nicht gelten, wenn statt eines neuen Strafbefehls eine Anklageschrift erstellt wird:

Die Vorinstanz legt mit ausführlicher und zutreffender Begründung dar, dass die prozessuale Konstellation im vom Beschwerdeführer angeführten Urteil 6B_848/2013 vom 3. April 2014 (E. 1.3.1; vgl. auch BGE 140 IV 188 E. 1.3 ff.) mit dem vorliegend zu beurteilenden Prozessverlauf nicht identisch ist. Zwar hat die Beschwerdegegnerin nach der Einsprache eine – wenn auch in der Sache identische – Anklageschrift verfasst. Damit hat sie entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers aber gerade nicht am ursprünglichen Strafbefehl festgehalten. Dieser gilt nach dem klaren Wortlaut von Art. 356 Abs. 1 StPO nur dann als Anklageschrift, wenn die Staatsanwaltschaft diesen mit den Akten unverzüglich dem erstinstanzlichen Gericht zur Durchführung des Hauptverfahrens überweist. Dem Beschwerdeführer ist zuzustimmen, dass das Verfahren nach Einsprache nicht dazu dient, allenfalls formungültige Strafbefehle nachzubessern. Dies führt entgegen seiner Ansicht jedoch nicht dazu, dass es der Staatsanwaltschaft rechtlich verwehrt ist, – aus welchen Gründen auch immer – auf einen (“ungültigen”, vgl. Art. 356 Abs. 2 und 5 StPO) Strafbefehl im Rahmen des gesetzlich Zulässigen zurückzukommen und durch eine den gesetzlichen Anforderungen genügende Anklageschrift zu ersetzen. Das Bundesgericht hat in dem vom Beschwerdeführer in seiner Eingabe zitierten Leitentscheid BGE 145 IV 438 festgehalten, dass vom Erlass eines neuen Strafbefehls im Sinne von Art. 355 Abs. 3 lit. c StPO mit neuem Schuldspruch und/oder neuer Sanktion die gesetzlich nicht ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit zu unterscheiden ist, den ursprünglichen Strafbefehl z.B. in Bezug auf die Sachverhaltsschilderung zu berichtigen oder zu ergänzen. Ein solches Vorgehen kann sich zur Vermeidung unnötiger Prozessleerläufe sowie im Interesse des Beschleunigungsgebots aufdrängen, da das erstinstanzliche Gericht verpflichtet ist, einen ungültigen Strafbefehl aufzuheben und den Fall zur Durchführung eines Vorverfahrens an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Dies ist namentlich der Fall, wenn die Sachverhaltsumschreibung im Strafbefehl den Anforderungen an eine Anklageschrift nicht genügt. Zudem hat die beschuldigte Person gemäss Art. 426 Abs. 3 lit. a StPO auch im Falle einer Verurteilung diejenigen Verfahrenskosten nicht zu tragen, die der Bund oder der Kanton durch unnötige oder fehlerhafte Verfahrenshandlungen verursacht hat (E. 1.3.1, Hervorhebungen durch mich).

Und zur Frage des Inhalts der Anklage:

Soweit der Beschwerdeführer rügt, die Beschwerdegegnerin habe in der Anklageschrift nicht beschrieben, inwieweit für die auf dem mittleren Fahrstreifen fahrenden Strassenbenützer durch das Rechtsüberholen eine erhebliche Gefahr bestanden habe, geht sein Vorbringen an der Sache vorbei. Der Beschwerdeführer vermengt insoweit die Umschreibung des Lebenssachverhalts in der Anklageschrift und dessen anschliessend vom Gericht vorzunehmende Subsumtion unter die einschlägige Strafnorm als Rechtsanwendung. Nach dem Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion; Art. 9 und Art. 325 StPO; Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. a und b EMRK). Die Anklage hat die der beschuldigten Person zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe in objektiver und subjektiver Hinsicht genügend konkretisiert sind. Die nähere Begründung der Anklage erfolgt an Schranken; es ist Sache des Gerichts, den Sachverhalt verbindlich festzustellen. Dieses ist an den in der Anklage umschriebenen Sachverhalt, nicht aber an die darin vorgenommene rechtliche Würdigung gebunden (Art. 350 Abs. 1 StPO; BGE 143 IV 63 E. 2.2; Urteil 6B_589/2019 vom 26. Mai 2020 E. 3.3; je mit Hinweisen). Ob das angeklagte Verkehrsmanöver des Beschwerdeführers, auf der Autobahn an drei Personenwagen rechts auf der Normalspur mit einer Geschwindigkeit von mehr als 120 km/h vorbeizufahren, im Falle des Nachweises eine erhebliche Gefahr im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG darstellt, ist eine reine Rechtsfrage und beschlägt nicht die Umschreibung des angeklagten Lebenssachverhalts (E. 1.3.2, Hervorhebungen durch mich). 

Fazit ist also, dass jemand, der eigentlich vorsätzlich handeln müsste, um sich überhaupt im Sinne der Anklage strafbar machen zu können, wegen Fahrlässigkeit verurteilt wird. zu fünft, bundesrechtswidrig und rechtskräftig.

Frage an die Strafverteidiger: wie verteidigt man sich in einem solchen Fall?