Das Bundesgericht und “in dubio pro reo”
Über “in dubio pro reo” wurde schon viel geschrieben. Das Bundesgericht scheint den Grundsatz nun auch in einem heute online gestellten Entscheid zurückzudrängen (BGer 6B_651/2018 vom 17.10.2018; vgl. schon BGer 6B_804/2017 vom 23.05.2018, der übrigens schon ein halbes Jahr auf seine Publikation in der AS harrt).
Der Entscheid mag im Ergebnis ja richtig sein, aber die abstrakten Ausführungen zu “in dubio” können es m.E. nicht sein:
Der In-dubio-Grundsatz findet auf die Frage, welche Beweismittel zu berücksichtigen und wie sie gegebenenfalls zu würdigen sind, keine Anwendung. Die Beweiswürdigung als solche wird vom Grundsatz der freien und umfassenden Beweiswürdigung beherrscht (vgl. Art. 10 Abs. 2 StPO). Wenn zu einer entscheidungserheblichen Frage beispielsweise divergierende Gutachten vorliegen, so muss das Sachgericht ohne Rücksicht auf die Unschuldsvermutung prüfen, welcher Einschätzung es folgen will. Es darf nicht einfach der für die beschuldigte Person günstigeren Expertise folgen. Der In-dubio-Grundsatz wird erst anwendbar, nachdem alle aus Sicht des urteilenden Gerichts notwendigen Beweise erhoben und ausgewertet worden sind. Insoweit stellt er keine Beweiswürdigungsregel dar. Das Sachgericht verletzt den In-dubio-Grundsatz, wenn es verurteilt, obwohl sich aus dem Urteil ergibt, dass offensichtlich erhebliche Zweifel an der Schuld der beschuldigten Person fortbestanden, oder wenn das Gericht die beschuldigte Person verurteilt, obwohl es bei objektiver Würdigung des gesamten Beweisergebnisses offensichtlich erhebliche Zweifel hätte haben müssen. Das Bundesgericht kann nicht schon das Übersehen von bloss erheblichen Zweifeln ahnden. Insoweit geht die aus dem rechtlichen Gebot abgeleitete freie Kognition des Bundesgerichts in ihrer Wirkung nicht weiter als die übliche Willkürkontrolle hinsichtlich vorinstanzlicher Sachverhaltsfeststellungen (Urteil 6B_804/2017 vom 23. Mai 2018 E. 2.2.3 mit Hinweisen, zur Publikation vorgesehen) [E. 1.3.3, Hervorhebungen durch mich].
Offenbar habe ich doch Recht, wenn ich behaupte, “in dubio” sei – spätestens vor Bundesgericht – bedeutungslos.
In einem Punkt (Landesverweisung) war die Beschwerde übrigens erfolgreich. Das Appellationsgericht BS muss die Frage neu beurteilen:
Aus dem angefochtenen Urteil und dem Verweis der Vorinstanz auf die erstinstanzlichen Erwägungen ergibt sich keine hinreichende Begründung der angeordneten Landesverweisung. Der Beschwerdeführer machte im Berufungsverfahren eine Verletzung von Art. 3 EMRK, eine Gefahrenlage in Afghanistan, einen persönlichen Härtefall sowie ein überwiegendes privates Interesse an seinem Verbleib in der Schweiz im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB geltend. Darauf geht die Vorinstanz nicht gebührend ein. Es erscheint fraglich, ob sich die Vorinstanz angesichts des erstinstanzlichen Hinweises auf das am 14. August 2013 abgewiesene Asylgesuch nicht zur Lage in der Heimat des Beschwerdeführers äussert. Mit einem blossen Hinweis auf den Asylentscheid wäre dem Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör ohnehin nicht Genüge getan. Die Vorinstanz wird bei der Prüfung des Härtefalls und der Situation, die den Beschwerdeführer in seiner Heimat erwartet, auch den Umstand in Betracht ziehen müssen, dass seine Familie offenbar weiterhin unbehelligt dort lebt. Überdies wird die Vorinstanz die Straftaten zu berücksichtigen haben, welche der Beschwerdeführer vor Inkrafttreten von Art. 66a Abs. 2 StGB beging. Auch hinsichtlich der gebotenen Interessenabwägung beschränkt sich die Vorinstanz mit der ersten Instanz darauf zu begründen, der Beschwerdeführer habe keinen Bezug zur Schweiz. Zu den laut Art. 66a Abs. 2 StGB mit den privaten Interessen des Ausländers abzuwägenden öffentlichen Interessen an der Landesverweisung äussert sie sich nicht. Mangels entsprechender Prüfung und anschliessender Interessenabwägung ist das vorinstanzliche Urteil auch insoweit ungenügend begründet (E. 8.4).