Das Bundesgericht und "nemo tenetur"

Erneut befasst sich das Bundesgericht (6B_503/2007 vom 21.01.2008) mit einer Strafsache, in der es eine Beschwerde wegen Unverwertbarkeit von Aussagen aufgehoben hatte (vgl. meinen früheren Beitrag).

In der Neubeurteilung stützte sich das Aargauer Obergericht auf Aussagen der Beschwerdeführerin, welche diese als Auskunftsperson gemacht hatte, ebenfalls ohne über ihr Schweigerecht belehrt worden zu sein.

Das Bundesgericht stellt fest, dass das im Zeitpunkt der Einvernahme geltende Prozessrecht – im Gegensatz zum heute geltenden – eine entsprechende Aufklärungspflicht nicht kannte und entschied mangels kantonalen Prozessrechts allein gestützt auf Art. 31 Abs. 2 BV:

In Ermangelung besonderer kantonaler Vorschriften über die Belehrungspflicht gelangt Art. 31 Abs. 2 BV zur Anwendung. Diese Bestimmung erkennt den Anspruch, über ihre Rechte unterrichtet zu werden, nur derjenigen Person zu, welcher die Freiheit entzogen worden ist. Die Beschwerdeführerin befand sich zum Zeitpunkt ihrer Befragung als Auskunftsperson unbestrittenermassen weder in Haft noch in einer vergleichbaren Drucksituation. Art 31 Abs. 2 BV findet daher keine Anwendung und die Beschwerdeführerin kann nicht gestützt auf diese Verfassungsbestimmung die Unverwertbarkeit ihrer Aussagen vom 1. August 2001 geltend machen (…; E. 3.4.2).

Weiter rügte die Beschwerdeführerin, dass unverwertbare Aussagen eines Mitangeklagten verwertet worden seien. Auf diese Rüge trat das Bundesgericht mangels persönlicher Betroffenheit mit durchaus bemerkenswerter Begründung gar nicht erst ein:

Nach der Rechtsprechung gewährt der Hinweis auf das
Aussageverweigerungsrecht des Mitbeschuldigten vorab dessen eigene
Verfahrensrechte, nicht diejenigen einer mitangeschuldigten Person (vgl.
Urteil des Bundesgerichts 1P.102/2006 vom 26.6.2006 E. 2.4, publ. in: Pra
2007 Nr. 27 S. 164). Der Beschwerdeführerin fehlt es daher an der
persönlichen Betroffenheit im Sinne von Art. 81 BGG, weshalb auf die
Beschwerde in diesem Punkt nicht eingetreten werden kann (E. 4.3).

Das Bundesgericht stellt dann aber auch klar, dass es die Rüge nicht gutgeheissen hätte, wenn es darauf eingetreten wäre:

Im Übrigen wäre, wie die Vorinstanz zu Recht ausführt (…), der Mangel der unterbliebenen Belehrung beim Mitangeklagten Y. ohnehin geheilt, da nach der Rechtsprechung die Aussagen des Beschuldigten trotz unterlassener Belehrung keinem Verwertungsverbot unterliegen, wenn die festgenommene Person ihr Aussageverweigerungsrecht gekannt hat, wovon auszugehen ist, wenn der Beschuldigte in Anwesenheit seines Verteidigers angehört worden ist (BGE 130 I 126 E. 3.2 mit Hinweis) (E. 4.3).

Der Entscheid setzt sich mit weiteren Rügen auseinander, auf die das Bundesgericht aber wiederum nur teilweise eintritt, etwa weil die Beschwerdeführerin eine bestimmte Rüge nicht bereits beim ersten Gang nach Lausanne vorgetragen hatte.

Eine weitere, an sich interessante und in der Schweiz m.W. nie vertieft erörterte Frage (Behandlung nicht protokollierter Vorgespräche) behandelt das Bundesgericht sehr verkürzt:

Doch verletzt nach der Rechtsprechung der Umstand, dass informelle Gespräche des Beschuldigten mit der Polizei nicht aufgezeichnet werden, den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht, wenn diesem in einer späteren Einvernahme Gelegenheit gegeben wird, seine Aussagen zu wiederholen (Urteil des Bundesgerichts 1P.261/2002 vom 20.1.2004 E. 4.3.1 und 4.4) (E. 6.3).

Erneut ist festzustellen, dass der Entscheid in erster Linie durch “clevere” Begründung besticht, was übrigens regelmässig der Fall ist, wenn der entsprechende Gerichtsschreiber (mit)wirkt. Ich persönlich würde Entscheidungen vorziehen, die sich nicht nur auf (mitunter bedenklich schwach) begründete Präjudizien stützen, sondern durch eigenständige und etwas vertieftere Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Rügen auszeichnen. Mit dem vorliegenden Fall wurde eine ausgezeichnete Gelegenheit dazu ausgelassen.