Das eigentliche Verteidigerdilemma
“Die Praxis” (Pra 9/2010 Nr. 104 mit Bemerkungen von Lieber) macht mich auf einen denkwürdigen Entscheid des Bundesgerichts (BGer 6B_100/2010 vom 22.04.2010) aufmerksam, der nicht in der amtlichen Sammlung publiziert wird und den ich vor lauter Spanien verpasst hatte.
Im genannten Entscheid hat der Beschwerdeführer geltend gemacht, von seinem amtlichen Verteidiger im kantonalen Verfahren ungenügend verteidigt worden zu sein. Das Bundesgericht weist die Beschwerde mit einer Begründung ab, die im Ergebnis dazu führt, dass eine formelle Verteidigung im Grunde gar nicht notwendig ist.
Eine Rüge betraf das sog. Verteidigerdilemma. Gerügt wurde, dass der Verteidiger – auf Freispruch plädierend – keine Eventualanträge im Falle einer Verurteilung stellte. Hier stellt das Bundesgericht zu Recht fest, dass darin keine anwaltliche Pflichtverletzung zu sehen sei,
zumal ein solches Verhalten auf einer durchdachten Verteidigungsstrategie beruhen mag und der Verteidiger eine Schwächung der Verteidigerposition nicht vorweg in Kauf zu nehmen braucht (E. 3.1).
Gerügt war aber auch, dass das Gericht im Rahmen seiner Fürsorgepflichten den Verteidiger nicht aufforderte, zur Strafzumessung zu plädieren. Auch darin erkennt das Bundesgericht kein Problem. Seine Begründung lässt befürchten, dass das Bundesgericht tatsächlich der Ansicht ist, in solchen Fällen übernehme das Gericht die Aufgaben der Verteidigung, womit es die Notwendigkeit einer formellen Verteidigung im Grunde verneint:
Vorliegend forderte das Kantonsgericht den amtlichen Verteidiger zwar nicht dazu auf, zum Strafpunkt Stellung zu nehmen. Es überprüfte das erstinstanzliche Urteil jedoch mit (grundsätzlich) uneingeschränkter Kognition umfassend von sich aus sowohl im Schuld- als auch im Strafpunkt. Dass dem Beschwerdeführer insoweit ein Nachteil entstanden sein soll, zeigt dieser – wiewohl nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erforderlich (vgl. nur BGE 126 I 194 E. 3d) – nicht auf (E. 3.1).
Dass der amtliche Verteidiger seine Beweisanträge nach kantonalem Recht verspätet gestellt hätte, qualifiziert das Bundesgericht zwar als schwerwiegende Pflichtverletzung. Diese habe sich aber nicht zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgewirkt, weil das Gericht in Ausübung seiner Fürsorgepflicht den Mangel geheilt habe:
Wie sich aus dem angefochtenen Entscheid indessen ergibt, wirkte sich dieses Versäumnis nicht zum Nachteil des Beschwerdeführers aus. Denn das Kantonsgericht behandelte sämtliche Beweisbegehren, namentlich auch die zu spät gestellten, materiell, d.h. wies diese in antizipierter Beweiswürdigung mit ausführlicher Begründung ab bzw. hätte sie bei rechtzeitiger Geltendmachung abgewiesen (angefochtener Entscheid, S. 19 ff; so auch die Beschwerde, S. 14). Es lastete dem Beschwerdeführer den Prozessfehler der Offizialverteidigung somit (zu Recht) nicht an, sondern “heilte” die insoweit mangelhafte Verteidigung durch sein Eingreifen in Ausübung der richterlichen Fürsorgepflicht (E. 3.2).
Die Beschwerde qualifiziert das Bundesgericht im Übrigen als zum Vornherein aussichtslos und verweigert dem Beschwerdeführer die unentgeltliche Rechtspflege.
Das Verteidigerdilemma muss nach diesem Entscheid neu definiert werden. Es besteht darin, Dienstleistungen zu erbringen, die es im Grunde gar nicht braucht.