Das Protokoll lügt nicht!

Die Jugendanwaltschaft des Kantons Bern hat ihrem Obergericht vorgeworfen, es habe ein Verfahrensprotokoll willkürlich gewürdigt. Darin ging es um den Verzicht auf den Konfrontationsanspruch der beschuldigten Person durch deren Anwältin. Dass man ein Protokoll geradezu willkürlich deuten kann, ist – absichtliche Fehldeutung vorbehalten – an sich schwer vorstellbar.

Das Bundesgericht hat dennoch auf Willkür erkannt (BGer 6B_596/2015 vom 23.12.2015). Die Begründung ist wenigstens im ersten Teil unfassbar:

Die Auffassung der Vorinstanz, wonach das erstinstanzliche Hauptverhandlungsprotokoll nicht eindeutig wiedergebe, was zwischen den Parteien und dem Gericht besprochen worden sei bzw. wer welche Anträge gestellt habe, widerspricht dem Grundsatz, dass in der Regel von der Vollständigkeit eines Verfahrensprotokolls auszugehen ist (…). Demzufolge kann angenommen werden, dass im Protokoll wenigstens kurz festgehalten worden wäre, wenn der Beschwerdegegner seinen Verzicht dem Gericht gegenüber unter Vorbehalt geäussert und ihn insbesondere auf die Durchführung der Befragung beschränkt, seinen Konfrontationsanspruch jedoch davon ausgenommen hätte. Ebenso spricht nichts dafür, dass die Parteien nebst ihrer Verzichtsäusserung irgendwelche Anträge gestellt haben könnten, da auch solche ins Protokoll hätten aufgenommen werden müssen (vgl. Art. 77 lit. c StPO). Ohne konkrete Anhaltspunkte davon auszugehen, die einschlägigen Verfahrensvorschriften seien nicht eingehalten und das fragliche Protokoll unvollständig verfasst worden, erscheint willkürlich (E. 1.4.1, Hervorhebungen durch mich).

Zum wirksamen Verzicht auf den Konfrontationsanspruch hält das Bundesgericht noch fest, dieser könne auch durch die Verteidigung erfolgen. Der Verzicht der Verteidigung sei dem Beschuldigten “anzurechnen”, wenn es für das Gegenteil keine Anhaltspunkte gebe, was hier nicht der Fall sei. Und auch den Rechtsmissbrauch muss sich er Jugendstraftäter vorhalten lassen:

Ebenso hätte der Beschwerdegegner ohne Weiteres an der Befragung des Privatklägers festhalten und so entweder sein Konfrontationsrecht durchsetzen oder – im Verweigerungsfall – immer noch die Unverwertbarkeit von dessen früheren Aussagen geltend machen können. Stattdessen verlegte er sich von vornherein darauf, seinen zunächst ohne Vorbehalt erklärten Verzicht im Parteivortrag zu relativieren und für die Unverwertbarkeit der fraglichen Aussagen zu plädieren. Dieses Vorgehen erscheint rechtsmissbräuchlich. Unter dem Aspekt von Treu und Glauben ist der Verzicht des Beschwerdegegners auf die gerichtliche Befragung des Privatklägers deshalb als gleichzeitiger Verzicht auf sein Konfrontationsrecht zu verstehen (E. 1.4.4).