“Das Schweizer Justizsystem am Anschlag”?
Gemäss Tages-Anzeiger steht die schweizerische Strafjustiz – gemeint sind die Strafverfolgung und die Strafjustiz, die wie fast immer unreflektiert in einen Topf geworfen werden – unmittelbar vor dem Kollaps.
Alle Beteiligten dürften darin übereinstimmen, dass die Zustände unhaltbar bzw. zumindest kritisch sind. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Tages-Anzeiger.
Bei den Gründen dürften die Meinungen allerdings meilenweit auseinandergehen. Im Tagi kommen leider nur etliche Strafverfolger und mit Thomas Fingerhuth immerhin auch ein Strafverteidiger zu Wort. Strafjustiz und Lehre bleiben stumm.
Problemanalyse: Hängen bleibt am Ende, dass der Gesetzgeber (u.a. wegen der vielen Anwälten in den eidg. Räten) versagt und dass die Strafverfolger derart überlastet sind, dass sie lieber in die besser bezahlte Privatwirtschaft wechseln.
Lösung: Anwälte im Herbst abwählen, dafür weitere Stellen für die Strafverfolgung schaffen und gleichzeitig den Lohn erhöhen. Habe ich etwas vergessen? Achja, klar: Siegelungs- und Teilnahmerechte sowie Rechtsmittel abschaffen.
Das einzig wirklich Hilfreiche wäre eine Rückbesinnung des Strafrechts auf seinen Grundsatz als ultima ratio, das heisst als letztes Mittel gegen effektiv massiv Sozialschädliches. Entgegen dem populistischen Mainstream leidet die Schweiz nicht an einem formalistischen Strafprozess, abnehmender Sicherheit oder zu wenig Ressourcen in der Strafverfolgung, sondern schlicht daran, dass wir alle möglichen und unmöglichen gesellschaftlichen Probleme über das Strafrecht angehen und dabei kläglich scheitern. Würden wir schon nur aufhören, Migration oder Suchtmittel über das Strafrecht zu bekämpfen und mit einem nicht nachvollziehbaren Furor ein paar Franken vermeintlich ungerechtfertigte Sozialversicherungsleistungen oder die Klimajugend zu verfolgen, könnte sich die Strafjustiz endlich wieder auf effektiv schädliche Kriminalität konzentrieren und hätte beim heutigen Personalbestand längst ausreichend Ressourcen dafür – ohne die geringste rechtsstaatliche Einbusse beim Strafprozess. Leitstern dieser verfehlten Kriminalpolitik ist nicht mehr das Doppelgespann Verbrechen und Strafe, sondern die Regulierung der sozialen Unsicherheit und die Disziplinierung von wenig Privilegierten. Das ist letztlich der einzige Grund für die Überlastung der Strafjustiz.
Okay, ich sehe, da ist wieder einmal ein Fachmann am Werk! Sie haben offensichtlich nicht die geringste Ahnung, wie sehr die Sozialdelikte gestiegen sind, oder? Einfach, damit hier die Praxis auch zu Wort kommt: wir SCHWIMMEN in Anzeigen von Sozialdelikten und, nein, es handelt sich dabei um keine Krankheit, die man mit “über den Kopf streicheln” kurieren könnte, sondern ein Phänomen, welches den Staat nachhaltig schädigt!
Was müsste man noch ändern? Nur noch Strafbefehle erlassen, unabhängig vom Strafmass. Anwälte abschaffen, Grundrechte abschaffen, Akteneinsichtsrecht abschaffen, öffentliche Prozesse verbieten, Geheimjustiz einrichten, etc. Dann bauen sich die Pendenzen ratz-fatz ab.
Willkommen im Unrechtsstaat!
Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter. Es wäre m. E. hilfreicher, wenn sich alle Parteien zusammensetzen und nach Lösungen suchen. Tatsache ist, dass die Fälle immer komplexer, internationaler und umfangreicher werden. Immer mehr Fälle werden in mehreren Zügelschachteln geliefert. Daher müssen sich die Gerichte (die geflissentlich immer übergangen oder vergessen werden) immer mehr mit Unmengen an Akten auseinandersetzen, die in der ersten Instanz oft im Zweierteam bearbeitet werden müssen. Da überdies oft mehrere Beschuldigte miteinander zu beurteilen sind, darf der Begründungsaufwand nicht vergessen werden. Diesbezüglich handelt es sich schon auch um ein Problem der Ressourcen, welche die Politik in den Kantonen nicht zu genehmigen bereit ist. In diesem Zusammenhang bediene ich mich gerne eines Bildes. Die Strafbehörden von der Polizei bis zum Bundesgericht lassen sich mit einer Pyramide vergleichen. Wird einseitig bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft ausgebaut, ergeben sich weiter oben Engpässe. Desgleichen ist es nicht sinnvoll, nur an der Spitze auszubauen (die Fälle kommen schliesslich von unten). Es sollte daher das Ziel sein, die ägyptische Pyramide (nicht die aztekische) so herzustellen, dass die Arbeit rechtsstaatlich bewältigt werden kann.
Richtig. Aber bevor man die Strafbehörden noch mehr ausbaut, müsste man sich tatsächlich mal wieder die Frage stellen, ob wirklich so viel bestraft gehört. Das ausufernde Strafrecht hat inzwischen Dimensionen angenommen, die kaum noch zu rechtfertigen sind. Alleine das neue StGB, welches vor 25 Tagen in Kraft getreten ist, zeigt in aller Deutlichkeit, wo man (auch) ansetzen könnte und müsste… Wie rechtfertigt man, dass neu obligatorisch des Landes verwiesen werden muss (und damit zwingend notwendig verteidigt und zwingend ans Gericht überwiesen werden muss), wer durch Verletzung der Regeln der Baukunde eine Gefährdung herbeiführt oder durch Beseitigung oder Nichtanbringung von Sicherheitsvorrichtungen? Es ist kaum noch zu glauben, wie absurd wir als Gesellschaft inzwischen geworden sind. Unter dem wohlklingenden Namen der “Harmonisierung der Strafrahmen” hat man über die Hintertür eine teils massive Verschärfung des Strafrechts eingeführt, die seinesgleichen sucht, mit unglaublichen Folgen. Und es geht immer weiter. Als nächstes soll das ganze Sexualstrafrecht revidiert und Bestimmungen eingeführt werden, die es nicht braucht, weil die Praxis diese «Probleme» eigentlich längst gelöst hätte, der Gesetzgeber (oder Exponenten) aber Ammenmärchen erfindet, um sich zu profilieren (Beispiel: Art. 193a StGB “Täuschung über den sexuellen Charakter einer Handlung”).
Oder wie pervers ist ein Gesetz, welches es einem Staatsanwalt viel einfacher macht, einen Strafbefehl zu erlassen, als es zu wagen, doch tatsächlich ein Verfahren einzustellen (Begründungsdichte, Kontrolle durch «den Leitenden» usw.)? Das ist kein Vorwurf an die Staatsanwaltschaft. Aber der Gesetzgeber (inzwischen immer öfter auch der Verordnungsgeber, immer öfter auch über Notrecht…) hat jegliches Augenmass verloren.
@Nemo Tenetur: dieser Analyse stimme ich vollumfänglich zu.
@Nemo Tenetur: Das kann ich voll und ganz unterschrieben.
Sehr treffend, vielen Dank.
@Nemo Tenetur.
Das ist alles nur ein kleiner Teil des Problems. Natürlich sollte man schon lange die Strafbarkeit von Fahrlässigkeitsdelikten auf grobe Fahrlässigkeit begrenzen. Natürlich musste man bei einer Landesverweisung die notwendige Verteidigung abschaffen, da es letztlich um ein Migrationsverfahren geht, wo es ebenfalls keine notwendige Verteidigung gibt. Natürlich braucht es Lockerungen beim Verfolgungszwang. Das ändert aber nichts daran, dass viele geltenden Strafbestimmungen, insbesondere auch im Verwaltungsstrafrecht, für Ordnung und Stabilität in der Schweiz wichtig sind.
Es ändert auch nichts daran, dass die Anwaltskosten in den letzten 15 Jahren regelrecht explodiert sind, dass man sich als Anwalt ein hohes Einkommen durch Einvernahmen faktisch “ersitzen” kann, dass es in den Verfahren nicht mehr um die Sache geht, dass in endlosen Nebenverfahren über schier unendliche Instanzen hinweg versucht wird, Verfahren zu verzögern und zu manipulieren und dies der Staat über die amtliche Verteidigung auch noch finanziert.
Zur Ablenkung einfach ein paar alte Platitüden zu wiederholen, ist nicht hilfreich. Probleme liegen bei den Strafverfolgern, bei den Gerichten, beim Gesetzgeber, bei den internationalen Verpflichtungen der Schweiz, bei der Migrationspolitik, und vor allem auch bei der Anwaltschaft, die in den letzten 15 Jahren den Strafrechtsbereich (früher ein arme-Leute-Fachgebiet, wo die Herren von den noblen Zürcher Büros die Nase rümpften) immer mehr als lukrative Geldquelle entdeckt hat.
@Anonymous: Fast mit allem einverstanden. Was Sie aber über die Anwaltskosten und die Verteidigung sagen, ist unbedarft. Sie verstehen die Funktion der Verteidigung nicht und haben keine Ahnung, wie “lukrativ” amtliche Verteidigungen wirklich sind. Und schliesslich noch ein banaler Hinweis: Dass immer mehr Strafverfahren auch zu mehr Anwaltskosten führen, müsste eigentlich auch einem Strafverfolger einleuchten.
@Anonymous: Ich bleibe bei meiner Analyse, ohne die Augen vor anderen Lösungsansätzen zu verschliessen (das geht aus meinem Beitrag mehrfach hervor). Was Sie allerdings zu den Anwaltslöhnen sagen, zeigt die verkorkste Meinung in vielen Behörden. Ich wage zu behaupten, dass viele Strafverteidiger in unserem Land weniger verdienen als ein Gerichtsschreiber. Von Staatsanwälten und Richtern ganz zu schweigen… Aber schauen Sie: Sie können jederzeit in die Privatwirtschaft wechseln. Das wird ja auch im verlinkten Zeitungsartikel offenbar als Lösung einiger erwähnt. Und dann schauen Sie doch mal, wie das so ist. Sie können das im Übrigen schon vorher ein wenig durchrechnen. Nehmen Sie Mietkosten, Personal, Sozialversicherungen, Infrastruktur, Versicherungen, Softwarelösungen (ja, Sie brauchen mehrere) usw. Dann schauen Sie, was das so kostet und wie viele Stunden Sie täglich verrechnen (nicht arbeiten, verrechnen) müssen. Ich nehme an, dass viele Anwälte ohne überdurchschnittlich viele amtliche Mandate zu haben, von Montag bis Mittwochabend arbeiten, nur um die Kosten zu decken. Mit Donnerstag und Freitag wird dann der Lohn generiert. Wenn Sie jetzt aber viele amtliche Mandate haben, verschiebt sich das natürlich nach hinten… Wenn Sie gute Stundenansätze haben oder «schlank» unterwegs sind, dann verdienen Sie schon etwas früher. Aber nun zum hier interessierenden Pflichtverteidiger, den Sie nennen: Wenn Sie also von rund 8-9 Tagen im Monat ausgehen (rechnen Sie die Ferien ein, die Sie ja eventuell auch noch machen), in welchen Sie ihren Lohn generieren können und vielleicht am Tag zwischen 5-6 Stunden verrechnen (was nicht so schlecht ist… glauben Sie mir) und wenn Sie diese zu CHF 200 (in Bern zum Beispiel, in Freiburg und Solothurn glaublich CHF 180) verrechnen, landen Sie teilweise bei unter CHF 10’000 brutto im Monat, je nach dem deutlich unter CHF 10’000. Und dies x12, denn es zahlt Ihnen niemand einen 13. Monatslohn. Es gibt keine 13 Monate. Und Nacht- und Wochenendzuschläge gibt es auch keine, obwohl Sie als Pikettverteidiger da auch arbeiten. Sie können natürlich Überstunden kompensieren, als selbstständiger Anwalt. Dann verdienen Sie aber noch weniger. Immerhin müssen Sie aber nicht PK-versichert sein, wenn Sie nicht wollen. Diese Abzüge Fallen dann weg. Ob Sie das aber wollen? Wie gesagt: Versuchen Sie es und melden Sie sich dann wieder hier.
@Richter: zu grossen Teilen einverstanden: Aber: alle Parteien setzen sich immer wieder zusammen und finden sogar übereinstimmende Lösungen. Die Politik weiss es aber halt immer besser. Und: M.E. sind die Ressourcen in den meisten Kantonen reichlich vorhanden. Meistens fehlt es an zielgerichtetem Verhalten vieler StA, die das Wesentliche nicht vom Unwesentlichen trennen und das Opportunitätsprinzip nicht anwenden. Die Unmengen an Akten, die jeweils zu mindestens 99% unerheblich sind (was man aber vor der Auseinandersetzung mit ihnen nicht wissen kann), gehören zu dieser Schwäche, die eigentlich eine Führungsschwäche ist.
Ich denke es müsste eine Mischung aus den Lösungsansätzen von Stephan Bernard und Richter sein: Mit dem Rotstift durch das Nebenstrafrecht streifen und grosszügig Strafbestimmungen streichen in Kombination mit einem Ausbau der Ressourcen auf der Ebene Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte. Dazu müssten die Anstellungsbedingungen aber auch attraktiver gestaltet werden. Nur schon die Polizei würde ja gerne mehr Personal einstellen, findet jedoch nicht genügend Interessierte.
Sie haben ja recht. Aber politisch ist es einfacher, weil wahlkampftaktisch vielsprechender, strafbestimmungen zu fordern. Da kann man sich als hüter der rechtsordnung aufspielen und als beschützer von opfern. Gleichzeitig kostet der erlass von neuen bestimmungen praktisch nichts. Kosten tun dann nur die probleme hintenraus, die hier treffend beschrieben werden.
Wenn wir im AIG und BtmG die Strafbestimmungen zusammenstreichen wird das wohl schon reichen. Vor der Aufstockung des Personals bei Polizei und StA würde ich mich hingegen hüten. Auf eine Überlastung des Systems mit eine Ausbau der Kapazitäten zu reagieren halte ich in erster Linie für Symptombekämpfung. Mehr Strassen führen zu mehr Verkehr – das ist nichts Neues. Wenn wir jetzt den Strafverfolgungsapparat ausbauen, werden wir in ein paar Jahren wieder genau dieselbe Diskussion haben. Abgesehen davon: Woher wollen Sie die zusätzlichen Leute nehmen. Es findet sich gerade auf Stufe Polizei schon jetzt kaum genügend qualifiziertes Personal und das obwohl die Ausbildung mit einem Jahr bereits skandalös kurz ist (es folgt im Kt. Bern noch ein Praxisjahr, die theoretische Ausbildung ist aber im Wesentlichen nach einem Jahr abgeschlossen). Die Qualität der Ausbildung weiter zu reduzieren halte ich für völlig verfehlt. Das Gegenteil wäre geboten. Dies ist aber wohl kaum je mehrheitsfähig, da die Exponent*innen der Polizei zumindest in Bern quasi konstant über Personalmangel klagen und mit dem aktuellen Sicherheitsdirektor auch eine starke Lobby haben.
Ohne gleich digital gesteinigt zu werden: Wie wäre es, mal über das künstliche Bevölkerungswachstum nachzudenken, welchem nicht nur unsere Infrastruktur um 20 Jahre hinterherhinkt?
@Anonymous: Da sollte keine Steinigung drohen. Bevölkerungswachstum hat selbstverständlich Folgen auch im Bereich der Strafverfolgung. Ich bin aber ziemlich sicher, dass die Strafverfolgungsbehörden deutlich schneller und stärker wachsen als die Bevölkerung. Aber klar, wenn man etwas ändern will, muss man alle Faktoren erwägen.
@Anonymus: Sie fassen das perfekt zusammen.
@kj: also sorry, wenn ich sehe, wieviel schlussendlich ein Gericht einem amtlichen Verteidiger sogar in einfachen “Standardverfahren” bezahlt, kann man sicher nicht mehr davon sprechen, es sei nicht lukrativ. Und solche Verfahren werden ja mindestens 20 andere ohne weiteres parallel geführt – sebstverständlich machen im Hintergrund aber ofmals die Praktikanten die Arbeit. Nur weil ein Anwalt in anderen Rechtsgebieten noch mehr abkassieren kann, heisst das nicht, das Strafrecht sei für eine Anwalt nicht lukrativ. Es sei ihnen gekönnt. Dass ein Verteidiger auch viele Auslagen (Fixkosten) hat, wird selbstverständlich anerkannt. Was Sie oben zum Opportunitätsprinzip anmerken: absolut einverstanden.
@Gericht: Dass es nicht lukrativ ist, weiss ich jetzt einfach besser als Sie. Aber ich lade Sie gern mal zu einem Praktikum ein. Zwei Wochen dürften genügen. Ich werde Sie sogar bezahlen und Sie einsetzen, obwohl ich Ihre Aufwendungen kaum verrechnen kann (auch wenn sie toll sind).
Mit dem Einzug der Psychologie in das Strafrecht hatte Gott die Schweizer Justiz und damit das Gewissen eines JEDEN Richters verlassen. Ein Richter der die Psychologie akzeptiert ist in meinen Augen genauso Bösartig wie die Verletzung des Guten Glaubens, Treu und Glaube wie Art. 5 Bundesverfassung, der schlichtweg mit der Psychologie NICHT vereinbar ist ! Treue und Guter Glauben sind biblische Gebote: Das Gewissen mit Ehrlichkeit kombiniert, Gottesfürchtig analogium des Salomonischen Urteils braucht es ein reines Gewissen von Richtern und nicht diese Schwäbischen Hypothesen-Reiter die analogium der Justiz-Weltgeschichte IMMER in jeder Kultur zum Zusammenbruch der Justiz geführt haben. Gott ist bereits aus dem Haus wenn die ersten Psychologen das Haus betreten………. Zitat von Heinrich Rohrer , ehemaliger Gründer Inhaber Sipuro