Das “Wiedererwägungsgesuch lite pendente”
Gemäss Art. 62d Abs. 1 StGB beschliesst die zuständige Behörde einmal jährlich, ob ein Verurteilter aus dem Vollzug einer Massnahme bedingt zu entlassen oder die Massnahme aufzuheben ist. In der Praxis dauern die entsprechenden Verfahren inkl. Rechtsmittel regelmässig und in Verletzung von Art. 5 EMRK viel zu lange, was zur Folge hat, dass dann gleich mehrere parallel geführt werden müssen. Dem wollte das Kantonsgericht BL entgehen, indem es auf ein aktuelles Gesuch – das vorherige war noch am Bundesgericht hängig – nicht eintreten wollte. Es hat es das neue Gesuch als “Wiedererwägungsgesuch lite pendente” qualifiziert. Das Bundesgericht greift ein und macht für das Kantonsgericht eine kleine Einführung in das Recht der jährlichen Überprüfung (BGer 6B_1334/2020 vom 05.02.2021):
Auch wenn der ursprüngliche Entscheid über den massnahmerechtlichen Freiheitsentzug gerichtlich angeordnet wurde, erachtet der Gesetzgeber aufgrund dessen Natur eine periodische (gerichtliche) Überprüfung der Rechtmässigkeit für erforderlich. Der Anspruch besteht immer (wieder) dann, wenn neue Umstände die Rechtmässigkeit der Haft nachträglich infrage zu stellen vermögen, weshalb die massnahmebetroffene Person bereits vor Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen periodischen Prüfung ein berechtigtes Interesse an einer gerichtlichen Beurteilung der Rechtmässigkeit des Massnahmevollzugs haben kann. Auch wenn der Anspruch nicht unbeschränkt gilt, muss die Überprüfung des Freiheitsentzuges wirksam ergriffen werden können (…) und die zuständige Behörde hat über die Rechtmässigkeit der Massnahme materiell zu entscheiden (…). Da es sich um einen vom zuvor gestellten Gesuch des Beschwerdeführers um Aufhebung der Massnahme und Entlassung aus dem Freiheitsentzug vom 25. August 2020 unabhängigen Anspruch handelt, kann nicht von einem “Wiedererwägungsgesuch lite pendente” ausgegangen werden, dessen Zulässigkeit allein nach verwaltungsrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen ist. Vielmehr ist auch das während der Rechtshängigkeit des bundesgerichtlichen Verfahrens gestellte neue Gesuch nach den materiellen Vorschriften von Art. 62d StGB und Art. 5 Ziff. 4 EMRK zu prüfen (E. 3.2, Hervorhebungen durch mich).
Das Kantonsgericht wollte dem Beschwerdeführer auch noch Rechtsmissbrauch vorwerfen, was aber zu Recht gar nicht gut ankam:
Soweit die Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung ergänzend ausführt, es sei nicht zu beanstanden, dass das AJV (und der Beschwerdegegner) das neue Gesuch des Beschwerdeführers um Aufhebung der Massnahme während des hängigen bundesgerichtlichen Verfahrens mangels geänderter Sachlage als rechtsmissbräuchlich qualifiziert haben, setzt sie sich in Widerspruch zu ihrer Begründung im angefochtenen Entscheid. Sie verkennt, dass sie im bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahren eine rechtsfehlerhafte Begründung nachträglich nicht ersetzen kann, denn Gegenstand der Überprüfung durch das Bundesgericht bildet ausschliesslich der angefochtene Entscheid (vgl. Art. 41 Abs. 2, Art. 80 Abs. 1, Art. 90 BGG). Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass das Bundesgericht das Nichteintreten auf das Gesuch des Beschwerdeführers in Anwendung von Art. 106 Abs. 1 BGG unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs von Amtes wegen prüfen könnte, gehen die Vorbringen der Vorinstanz an der Sache vorbei. Ob das AJV und der Beschwerdegegner, dessen Entscheid im vorinstanzlichen Verfahren Anfechtungsgegenstand war, die erneute Antragstellung des Beschwerdeführers als rechtsmissbräuchlich eingestuft haben, ist unerheblich. Die Vorinstanz verkennt insoweit die ihr gemäss § 45 Abs. 1 i.V.m. §§ 6 Abs. 2 und 12 Abs. 2 VPO/BL eingeräumte und nach Art. 5 Abs. 4 EMRK in Haftsachen obliegende Sach- und Rechtskognition. Sie kann sich – wie schon bereits im angefochtenen Entscheid – nicht mit einer blossen Rechtsüberprüfung der Verfügung der kantonalen Behörden begnügen, sondern hat die Sach- und Rechtslage selbst zu beurteilen (vgl. Urteil 6B_983/2020 vom 3. November 2020 E. 1.3.2; MARK E. VILLIGER, a.a.O., N. 410 und N. 438 ff. zu Art. 5 EMRK). Ausschlaggebend ist insoweit nicht, ob das erneute Gesuch des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Entscheidung durch das AJV (respektive den Beschwerdegegner) mangels rechtserheblicher Änderung der Sachlage seit dem Urteil des Kantonsgerichts vom 14. Mai 2020 allenfalls als rechtsmissbräuchlich hätte eingestuft werden können. Die Vorinstanz hätte selbst beurteilen müssen, ob aufgrund der Sachlage, wie sie sich im Zeitpunkt der Urteilsfällung präsentiert hat, die Aufhebung der Massnahme erneut zu überprüfen und anzuordnen gewesen wäre (§ 45 Abs. 1 i.V.m. §§ 6 Abs. 2 und 12 Abs. 2 VPO/BL). Ob und inwieweit sich die Umstände in der Zeit vom 14. Mai 2020 bis zum 22. Oktober 2020 geändert haben, ist eine nach den materiell-rechtlichen Vorgaben von Art. 62d Abs. 1 StGB vorzunehmende Beurteilung, die nicht erstmalig vom Bundesgericht vorzunehmen ist, das nicht über umfassende Sachkognition verfügt und als oberste Recht sprechende Behörde des Bundes auf eine Rechtsüberprüfung beschränkt ist (vgl. Art. 1 Abs. 1, Art. 105 Abs. 1 BGG) [E. 3.3].