Dass Prozessrecht nicht Selbstzweck ist …

… wird in der Regel dann erklärt, wenn es gegen den Beschuldigten verwendet werden kann. Als Beispiel kann ein neuer Entscheid des Bundesgerichts (BGer 6B_436/2008 vom 21.10.2008) dienen, der den letzten Akt in einem Strafverfahren darstellen dürfte, das nun wirklich dumm gelaufen ist.

Der Beschuldigte, der wegen Überschreitens der Höchstgeschwindigkeit im Strafverfügungsverfahren mit CHF 360.00 gebüsst wurde verpasste zunächst die Einsprachefrist, womit die Strafverfügung in Rechtskraft erwuchs. Was in solchen Fällen bleibt, ist die Wiederaufnahme. Im Wiederaufnahmeverfahren scheiterte aber sein Anwalt an der Frist zur Einzahlung des Kostenvorschusses. Er machte vor der Vorinstanz geltend,

zufolge eines kanzleiinternen EDV-Problems sei der Kostenvorschuss erst am 10. April 2008 überwiesen worden. Seitens des Obergerichts seien der Zahlungseingang am 14. April 2008 bestätigt worden und er bei dieser Gelegenheit auf die Möglichkeit hingewiesen worden, „ein Gesuch um Aufhebung der Säumnisfolgen gem. § 27 StPO zu stellen“. 

Auf dieses Gesuch verzichtete der Anwalt, zumal der Vorschuss ja inzwischen eingegangen war. Das Obergericht trat auf die beantragte Wiederaufnahme aufgrund der verspäteten Einzahlung nicht ein. Das Bundesgericht schützt den Entscheid: 

Zu verneinen ist ebenfalls ein überspitzter Formalismus wegen „unterlassener Umdeutung einer Eingabe“. Entgegen dem vorinstanzlichen Hinweis, ein Gesuch gemäss § 27 StPO/SO zu stellen, beharrte der Beschwerdeführer auf der Behandlung des Wiederaufnahmebegehrens trotz verspäteter Leistung des Kostenvorschusses (oben E. B). Eine Umdeutung hätte dem erklärten Willen des rechtskundigen Gesuchstellers widersprochen. Eben so wenig ist ersichtlich, dass die Vorinstanz eine „Frist zur Stellung eines Wiedereinsetzungsgesuches“ hätte ansetzen müssen (E. 1.2, Hervorhebungen durch mich).

Der Wille des Gesuchstellers als Auslegungsregel gegen seinen Willen? Und weiter:

Das Prozessrecht ist allerdings nicht Selbstzweck (…), steht aber auch nicht zur Parteidisposition, wie der Beschwerdeführer in seinem Schreiben vom 15. April 2008 anzunehmen scheint.

Das mag ja zumindest im Ergebnis richtig sein. Zu begrüssen wäre allerdings, wenn das Bundesgericht vermehrt auch die Strafbehörden darauf hinweisen würde, dass das sonst so ungeliebte Prozessrecht nicht Selbstzweck ist. Verstösse durch die Behörden werden leider regelmässig über die Güterabwägung „gerechtfertigt“ mit der Folge, dass das Prozessrecht noch mehr zu verludern droht.

Der vielleicht unschuldig (who cares?) verurteilte Automobilist berief sich übrigens auch darauf, dass ihm ein Fehler seines Anwalts nicht zum Nachteil gereichen könne. Das Bundesgericht hat kein Verständnis:

Vorliegend geht es indessen nicht um notwendige, d.h. angesichts von Art und Schwere der Strafsache zwingend vorgeschriebene Verteidigung (BGE 131 I 350 E. 2.1; …), in welchem Fall gegebenenfalls in der schwerwiegenden Vernachlässigung anwaltlicher Berufs- und Standespflichten eine Verletzung der Verteidigungsrechte liegen kann (BGE 131 I 185 E. 3.2.3). Die Säumnis bestand in der verspäteten Vorschussleistung für das Wiederaufnahmeverfahren. Trotz Kenntnis dieses Sachverhalts hielt der Beschwerdeführer an der Behandlung des Wiederaufnahmebegehrens fest, ohne sich vorerst von der Säumnis erheben zu wollen, was vorhersehbar zum gesetzmässigen Nichteintretensentscheid führte (E. 1.4).

Diese Begründung kann ich nicht nachvollziehen. Schwere Verletzungen der Berufspflichten sind dem Beschuldigten nur dann nicht zuzurechnen, wenn die Verteidigung eine notwendige ist?