Der Dritte ist (manchmal) derselbe
Im Strafrecht sind zivilrechtliche Verhältnisse oft nicht relevant, jedenfalls dann nicht, wenn natürliche Personen juristische Personen als Vehikel für Transaktionen verwenden. Ein solches Beispiel findet sich beim einziehungsrechtlichen Durchgriff. Um an die Vermögenswerte heranzukommen, greift der Strafrichter gleichsam durch die juristische Person hindurch auf das zivilrechtlich getrennte Vermögen der natürlichen Person oder umgekehrt. Das ist möglich, indem die rechtlichen Verhältnisse mit den wirtschaftlichen vermischt werden. Wer sich in einer solchen Konstellation auf die rechtlichen Verhältnisse beruft, verhält sich rechtsmissbräuchlich. Hier ein aktuelles Beispiel (BGer 6B_993/2019 vom 15.06.2020):
Unter den Begriff des “Betroffenen” im Sinne von Art. 71 Abs. 3 StGB fällt nicht nur der Täter, sondern unter gewissen Voraussetzungen auch ein Dritter, der durch die Straftat auf die eine oder andere Weise begünstigt worden ist. Eine Ersatzforderungsbeschlagnahme ist nach der Rechtsprechung gegenüber “Dritten” – abgesehen von dem in Art. 70 Abs. 2 i.V.m. Art. 71 Abs. 1 StGB geregelten Fall – auch dann zulässig, wenn es sich beim “Dritten” um wirtschaftlich dieselbe Person handelt. Dies ist der Fall, wenn zwischen dem Aktionär (und mutmasslichen Täter) und der Gesellschaft, die er besitzt, nicht zu unterscheiden ist, und demgemäss die Voraussetzungen für einen strafprozessualen Durchgriff vorliegen. Dasselbe gilt hinsichtlich von Vermögenswerten, die wirtschaftlich betrachtet im Eigentum der beschuldigten Person stehen, weil sie etwa nur durch ein Scheingeschäft an eine “Strohperson” übertragen worden sind (BGE 140 IV 57 E. 4.1.2 S. 64 mit Hinweisen; Urteile 1B_255/2018 vom 6. August 2018 E. 2.6; 1B_208/2015 vom 2. November 2015 E. 4.4; je mit Hinweisen). In diesen letzteren beiden Konstellationen ist nicht von der Beschlagnahme bei einem Dritten auszugehen, da der Einwand, die Beschlagnahme betreffe Vermögenswerte eines Dritten, rechtsmissbräuchlich ist (Urteil 1B_255/2018 vom 6. August 2018 E. 2.6) [E. 3.3.3, Hervorhebungen durch mich].
Geht es hingegen darum, einen Geschäftsführer bestrafen zu können, der eine Gesellschaft schädigt, an der er selbst sämtliche Anteile hält, stützt man sich strikt auf die rechtlichen Verhältnisse. Er schädigt eine Drittperson, nämlich die Gesellschaft (die ihm zu 100% gehört).
Ähnlich verhält es sich auch dann, wenn es darum geht, einem Organ einer juristischen Person Garantenstellung für Vertragspartner der juristischen Person zuzuerkennen. Das kann bewirken, dass sich ein Geschäftsführer durch Unterlassen strafbar macht, weil er Handlungspflichten gegenüber den Kunden [gemeint sind die Kunden der Gesellschaft, denen er zivilrechtlich überhaupt nichts schuldet] verletzt. Dafür ein Beispiel aus demselben Sachverhaltskomplex, der in einem anderen Bundesgerichtsentscheid im Sinne der Staatsanwaltschaft entschieden wurde (BGer 6B_910/2019 vom 15.06.2020):
Verletzt ein Mitglied des Verwaltungsrats gegenüber den Kunden der Gesellschaft seine [seine?] Informations-, Rechenschafts- oder Treuepflicht, kann dies nach der Rechtsprechung einen Schuldspruch wegen Betrugs oder ungetreuer Geschäftsbesorgung durch Unterlassen nach sich ziehen (BGE 144 IV 294 E. 3 S. 295 ff.; Urteil 6S.23/2002 vom 8. April 2002 E. 2). Dies ist nach der Rechtsprechung insbesondere der Fall, wenn der Verwaltungsrat einer Vermögensverwaltungsgesellschaft, der Kenntnis von der nicht vereinbarungsgemässen Verwendung von Anlagegeldern sowie dem damit einhergehenden Verlust der Gelder hat, nicht interveniert und die Kunden nicht über die erlittenen Verluste sowie die effektive Verwendung ihrer Gelder informiert (Urteil 6S.23/2002 vom 8. April 2002 E. 2d) [E. 2.2.3.2. Hervorhebungen und Anmerkungen in Klammern durch mich].
In diesen Fall (insbesondere in den zugrunde liegenden Sachverhalt) hat sich das Bundesgericht so richtig reingekniet und das Urteil des Obergerichts AG nach ca. eineinhalb Jahren in den meisten Punkten aufgehoben. Manchmal verhält sich das Bundesgericht halt eben doch wie ein Sachgericht, das es ja gar nicht sein will.
Vielen Dank für den wertvollen Hinweis auf diese Entscheide und Ihren kritischen Vergleich der Wertungen in diesen Fällen bzw. Zitatstellen.
Das Kriterium in allen Entscheiden ist der Gläubigerschutz.
Im ersten Fall der Schutz der Gläubiger (Geschädigte), gegenüber denen sich der Täter rechtsmissbräuchlich auf die juristische Persönlichkeit der Gesellschaft oder ein Strohgeschäft beruft. Sie verdienen Schutz vor solchem Missbrauch. Zudem ist die Vermögensabschöpfung auch für die Generalprävention von grundlegender Bedeutung.
Im zweiten Fall geht es um den Schutz der Gläubiger der Gesellschaft, welche der Täter und 100% Eigentümer aushöhlt, in dem er sich in der Kasse der Gesellschaft frei bedient und so seine Pflicht als Geschäftsführer krass verletzt. Würde er seine Pflichten beachten, wären die Gläubiger der Gesellschaft nicht geschädigt. Auch sie verdienen Schutz vor solcher Aushöhlung.
Bei der dritten Frage – Pflichten gegenüber Kunden (=Gläubiger) der Gesellschaft – erfolgt die Zurechnung im Strafrecht (!) über Art. 29 StGB. Wenn Sie sich an der Daseinsberechtigung dieser Bestimmung stören, können wir gerne weiter debattieren. Ich gehe aber davon aus, dass Sie die strafrechtliche Übertragung (“Zurechnung”) der Pflicht der Gesellschaft zur Aufklärung der Kunden auf die natürliche Person des Organs (ZGB 55: Gesellschaft handelt durch ihre Organe) nicht wirklich in Frage stellen wollen. Es geht hier um einen Grundstein des Individualstrafrechts, bei dem eben natürliche Personen haften sollen, weil nur sie durch den Staat strafrechtlich wirksam zur Verantwortung gezogen werden können. Gewisse Leute brauchen die Strafdrohung und strafrechtliche Sanktionierung, um die gesetzlichen Pflichten, welche sie als Organe haben, einzuhalten.
Unter dem Strich scheint mir aber ein Vergleich solcher Fälle sowie von Straf- und Privatrecht sehr wichtig. Deren Komplementarität und die Richtigkeit der Wertungen bedürfen eingehender Prüfung und Begründung.
@Privatkläger: Mir geht es letztlich darum, nicht über das Strafrecht Haftungsnormen zu konstruieren, die zivilrechtlich nicht existieren. Zurechnungsnormen wie Art. 29 StGB sind an sich schon berechtigt. Sie werden in der Praxis aber einfach viel zu unreflektiert angewendet. Auch ein Organ haftet nicht einfach für alles, was bei der jur. Person schlief läuft. Wenn ich sehe, wie schwierig die Durchsetzung einer persönlichen Haftung im Privatrecht ist und wie locker das Strafrecht damit umgeht, frage ich mich schon, ob die Wertungswidersprüche gerechtfertigt sind. Wer zivilrechtlich nicht haftet, kann m.E. erst recht nicht strafrechtlich haftbar gemacht werden.
Zu: “Wer zivilrechtlich nicht haftet, kann m.E. erst recht nicht strafrechtlich haftbar gemacht werden.”
Wir müssen hier 2 Fallgruppen differenzieren. Die Entscheide 6B_993/2019 und 1B_255/2018 stützen sich auf Einziehungsrecht, sie betreffen keine Haftungsfragen. Bei der Einziehung beim Dritten/Betroffenen geht es bekanntlich nicht um eine zivilrechtliche Haftung, welche strafrechtlich auch noch sanktioniert wird, sondern um den Grundsatz, dass sich strafbares Verhalten nicht lohnen darf. Der Täter, welcher die gestohlenen Vermögenswerte z.B. seinem Gatten schenkt, soll sie dadurch nicht der Einziehung entziehen können. Der Gatte muss die Einziehung geschehen lassen, selbst wenn er nichts von der strafbaren Herkunft wusste. Das Kriterium ist die fehlende gleichwertige Gegenleistung (1B_255/2018, E. 2.7); und allenfalls zusätzlich der böse Glaube. Abgefedert wird diese Regelung durch eine Härtefallklausel. Durch die Einziehung werden die Interessen der Opfer/Gläubiger mitberücksichtigt.
Was die Anwendung des Durchgriffs anbelangt, weist BGer 6B_993/2019 nach, dass in casu auch ein zivilrechtlicher Durchgriff möglich gewesen wäre (die Begründung ist zugegebenermassen sehr kurz gehalten). Eine abweichende Wertung lag nicht zwischen Zivil- und Strafrecht, sondern nur zwischen diesen beiden und bestimmten kantonalen Steuergesetzen vor (E. 3.4.2). Dass hier Zivil- und Strafrecht der – ohnehin fraglichen – Wertung der Steuergesetze nicht folgt, scheint mir angemessen.
Nun zu Ihrem eigentlichen Punkt, dass im Strafrecht eine Haftung anerkannt werde, welche im Zivilrecht so nicht besteht. Hier müssen Sie meiner Meinung nach für Ihren Vorwurf gegen die Gerichte andere Beispiele suchen (es mag solche geben) als die von Ihnen zitierten Entscheide des Bundesgerichts. In BGE 144 IV 294, auf den sich BGer 6B_910/2019 beruft, verweist das Bundesgericht nämlich auf seine zivilrechtliche Rechtsprechung zum Auftragsrecht: (BGE 143 III 348, 138 III 755 etc), um die Garantenstellung herzuleiten.
Im Zivilrecht würde bereits Fahrlässigkeit für eine Haftung genügen; im Strafrecht ist zumindest Eventualvorsatz erforderlich: Das Bundesgericht setzt sich damit in 6B_910/2019, E. 2.7, eingehend und differenziert auseinander.
Was die Garantenstellung betrifft weist das Bundesgericht die Parallelität der Garantenhaftung in Zivil- und Strafrecht also nach, während es das Auseinanderfallen der Voraussetzungen auf subjektiver Seite in Zivil- vs. Strafrecht (Fahrlässigkeit vs Eventualvorsatz) gebührend berücksichtigt. Es wird also nicht unbesehen einfach die zivilrechtliche Haftung ins Strafrecht übertragen.
Im übrigen kann doch niemand, der ein Interesse hat in einer vernünftig-organisierten Gesellschaft zu leben, daran zweifeln, dass Verwaltungsräte einer Vermögensverwaltungsgesellschaft, denen die Veruntreuung der Klientengelder durch die Geschäftsführung bekannt ist (BGer 6S.23/2002) oder welche ganz erhebliche Anhaltspunkte dafür haben und diesen nicht nachgehen (6B_910/2019 ), für ihre unterlassene Aufklärung der Kunden strafrechtlich haften? Was das Bundesgericht dem VR-Präsidenten in E. 2.7.3 von 6B_910/2019 vorwirft ist doch – für jeden der die Begründung gelesen hat – Grund genug für eine Bestrafung? (By the way: Auch zivilrechtlich würde dieser Verwaltungsräte aufgrund von Art. 55 ZGB persönlich haften, und zwar neben der ohnehin aus Vertrag und unerlaubter Handlung (OR 722) haftenden Gesellschaft.)
Solche Verwaltungsräte sind also keineswegs Opfer einer inkohärenten Rechtsprechung, they get what they deserve. Die meisten leben davor lange Zeit auf Kosten der Kunden auf grossem Fuss, nehmen ihre Verantwortung nicht war, und meinen sie kommen irgendwie davon.
PS: Zivilrechtlich ist es – trotz genügen der Fahrlässigkeit – oft tatsächlich schwierig die Haftung nachzuweisen: Es fehlt an Beweisen (welche erst durch Beschlagnahmungen beschafft werden können) und die Obliegenheit zur genauen Bezifferung des Schadens stellt eine weitere hohe Hürde dar.
PS2: Für Ihre Hinweise und vielfach gerechtfertigte Kritik (jüngst im Zusammenhang mit der Verwertung von Aussagen aus dem abgekürzten Verfahren – auch bei mir standen da die Haare zu berge) bin ich Ihnen stets dankbar.
@Privatkläger: Danke für die Blumen. Mit Ihren Ausführungen bin ich weitgehend einverstanden. Meine Kritik setzt an zwei Punkten an, nämlich an der Vorstellung, jedes Problem über das Strafrecht lösen zu wollen (ungetreue Geschäftsbesorgung hat doch im Strafrecht nichts zu suchen) und dann im Strafrecht auch noch ein tieferes Beweismass anzuwenden, bspw. in Bezug auf den Schadensnachweis. Das führt dazu, dass jeder, der Geld verliert, den Staatsanwalt beauftragen kann, die ganze Arbeit auf Kosten des Staats zu machen. Richtig wäre m.E., dass zuerst ein Zivilprozess zu führen ist und das Strafverfahren so lange sistiert bleibt.
Schön wäre es, wenn die Staatsanwaltschaften wirklich die ganze Arbeit machen würden. In der Praxis passiert ohne Vorarbeit und Mitarbeit (sowie oft auch sanfter Druck) der Privatkläger vielfach herzlich wenig. Und eine Sistierung des Strafverfahrens während des zivilrechtlichen Haftungsprozesses würde bedeuten, dass Betrüger noch viele Jahre fröhlich mit neuen Projekten weitermachen könnten, denn während des Zivilprozesses würde ja die Unschuldsvermutung gelten und der StA wären die Hände gebunden. Wenig praktikabel. Das jetzige System ist nicht perfekt, aber gar nicht so schlecht.