Der Durchsuchungsbefehl als blosse Ordnungsvorschrift

Wer morgens kurz nach 07.00 Uhr stark alkoholisiert in einer Kontaktbar angetroffen wird, ausländischer Herkunft zu sein scheint und sich nicht ausweisen will, ist relativ rechtlos, was gemäss Bundesgericht aber nicht zu beanstanden ist. Es ist zwar grundsätzlich – mangels Gefahr in Verzug – nicht erlaubt, das Mobiltelefon der angehaltenen Person zu durchsuchen. Wenn es trotzdem durchsucht wird, hat es aber keine Konsequenzen, sondern ist bloss “regelwidrig” (BGE 6B_307/2012 vom 14.02.2013, Publikation in der AS vorgesehen, merkwürdige Besetzung der Abteilung):

Die “offensichtlichen Freier-Adressen” waren auf dem I-Phone gespeichert und konnten ohne Manipulation des Geräts nicht verloren gehen. Zwar durften die Polizeibeamten das I-Phone – ohne entsprechende Beschlagnahme – nur so lange (zurück-)behalten, als es der Beschwerdeführerin selber untersagt war, sich vom Ort der Massnahme zu entfernen. Das begründet aber für sich allein keine dringliche Situation im Sinne von Art. 241 Abs. 3 StPO, zumal nicht erstellt und angesichts des Zeitpunkts der Kontrolle auch nicht wahrscheinlich ist, dass die Staatsanwaltschaft für eine (mindestens mündliche) Anordnung der Durchsuchung des I-Phones nicht erreichbar war (Keller, a.a.O., Art. 241 Rz. 23 und Art. 246 Rz. 4, welcher Dringlichkeit bei Durchsuchungen von Aufzeichnungen praktisch für ausgeschlossen hält). Das selbständige Handeln der Polizei ohne staatsanwaltschaftlichen Befehl war regelwidrig. Es stellt sich die Frage nach den prozessualen Folgen dieses Verstosses (E. 1.5).

Der Begriff “regelwidrig” lässt für die Frage der Verwertbarkeit der “offensichtlichen Freier-Adressen” nichts Gutes erahnen. Was dann aber kommt ist schwer bekömmlich:

Dass die Polizeibeamten das I-Phone der Beschwerdeführerin bzw. die darin gespeicherten Adressen ohne die grundsätzlich erforderliche Bewilligung der Staatsanwaltschaft durchsuchten, führt nicht zu einem Verbot der Verwertung der erwähnten Freier-Adressen. Die Voraussetzungen für die Durchsuchung des (offenkundig nicht mittels eines Codes verschlossenen) I-Phones waren an sich erfüllt. Die Durchsuchung als solche war auch nicht unverhältnismässig. Die Polizeibeamten beschränkten sich offenbar darauf, (nur) Einsicht in die im Gerät abgelegten Adressen zu nehmen (vgl. hierzu Hinweis im Polizeirapport vom 28. Januar 2011, act. 1, S. 3 und 4, wonach “über die Agenda” eventuell noch weitere Freier ermittelt werden könnten). Anhaltspunkte dafür, dass sich die Beamten vorsätzlich und rechtsmissbräuchlich über die gesetzliche Zuständigkeitsordnung im Sinne von Art. 198 StPO hinwegsetzten bzw. den staatsanwaltschaftlichen Durchsuchungsbefehl bewusst nicht einholten, bestehen nicht. Das gilt umso mehr, als selbständiges polizeiliches Handeln im Rahmen von Art. 246 StPO nicht kategorisch ausgeschlossen, sondern bei Dringlichkeit (Art. 241 Abs. 3 StPO) möglich ist. Die Zuständigkeiten sind hier in einer gewissen Hinsicht “fliessend”. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der konkreten Umstände stellt das Erfordernis des staatsanwaltschaftlichen Durchsuchungsbefehls im vorliegenden Fall eine blosse Ordnungsvorschrift im Sinne von Art. 141 Abs. 3 StPO dar (vgl. insoweit auch Gfeller, a.a.O., Art. 246 Rz. 10 mit Hinweisen). Demnach sind die ermittelten “offensichtlichen Freier-Adressen” und die gestützt darauf erlangten Aussagen des Zeugen B. verwertbar.

Die “offensichtlichen Freier-Adressen” stellten auch keinen Zufallsfund dar:

Die Polizei führte die Beschwerdeführerin gemäss Rapport zwar primär deshalb auf den Polizeiposten, weil sich diese nicht ausweisen konnte und Anhaltspunkte dafür bestanden, sie sei ohne gültige Ausweispapiere in der Schweiz anwesend (Entscheid, S. 11). Damit stand für die Polizei nach Ansicht der Vorinstanz anfänglich zwar ein allfälliger Verstoss gegen Einreisevorschriften im Sinne von Art. 115 Abs. 1 lit. a AuG im Vordergrund, ohne dass aber Widerhandlungen gegen Art. 115 Abs. 1 lit. b und c AuG (rechtswidriger Aufenthalt, Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung) ausgeschlossen werden konnten. Solche Verstösse schienen vielmehr ebenso wahrscheinlich (Entscheid, S. 11). Dieser Schluss der Vorinstanz ist nicht willkürlich. Er folgt aus der Gesamtsituation anlässlich der Kontrolle der Beschwerdeführerin (Einsatzörtlichkeit der Polizei in einer einschlägigen “Kontakt-Bar” im Kerngebiet des Stadtzürcher Milieus; starke Alkoholisierung der Beschwerdeführerin; Weigerung, sich auszuweisen; keine Ausweispapiere). Deren Einwand, nicht jede Frau, die sich im “Chreis Cheib” die “Nacht um die Ohren schlage”, sei ein “leichtes Mädchen”, ist nicht geeignet, den vorinstanzlichen Schluss in Frage zu stellen (Beschwerde, S. 7). Mit der Vorinstanz kann ohne Willkür davon ausgegangen werden, gegenüber der Beschwerdeführerin habe von Anbeginn an ein (Anfangs-)Verdacht bestanden, sie weile ohne gültige Papiere in der Schweiz und übe eine nicht bewilligte Erwerbstätigkeit aus. Die ermittelten Adressdaten von Freiern stehen demnach in direktem Zusammenhang mit den abzuklärenden Straftaten und stellen keinen Zufallsfund dar (E. 2.2)

Und dass die “offensichtlichen Freier-Adressen” nicht aktenkundig gemacht wurden, hat das Bundesgericht auch nicht gestört, auch wenn das Verhalten der Polizei die Dokumentationspflicht “allenfalls” verletzt hat:

Die “offensichtlichen Freier-Adressen” sind in den Akten nicht enthalten (…). Aus dem Polizei- und Verhaftrapport vom 28. Januar 2011 ergeben sich lediglich Hinweise darauf, dass solche gefunden wurden (…). Mit der Vorinstanz (…) ist davon auszugehen, dass die Kontaktdaten des späteren Zeugen B. gestützt auf die ermittelten “offensichtlichen Freier-Adressen” eruiert wurden. Das ergibt sich schon daraus, dass die Polizei den Zeugen telefonisch kontaktierte, unmittelbar nachdem sie die Beschwerdeführerin angehalten und die Freier-Adressen gefunden hatte. Unter diesen Umständen sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass sich die Polizei aufs Geratewohl mit dem Zeugen B. in Verbindung setzte und Beweiserhebungen tätigte, um einen Tatverdacht gegenüber der Beschwerdeführerin in Bezug auf eine allfällige nicht bewilligte Erwerbstätigkeit als Prostituierte überhaupt erst begründen zu können. Die Polizei ging vielmehr einem aus den sichergestellten Adressdaten resultierenden konkreten Hinweis zum bereits im Raum stehenden Verdacht nach. Das ist weder unüblich noch unzulässig. Der Vorwurf, die telefonische Kontaktierung des späteren Zeugen B. lege eine unzulässige Beweisausforschung nahe, geht damit fehl. Dass die Polizei die “offensichtlichen Freier-Adressen” nicht aktenkundig machte und den Inhalt des Telefongesprächs mit dem Zeugen B. nicht in einer Aktennotiz protokollierte, begründet zwar allenfalls eine Verletzung der Dokumentationspflicht (wobei der Umstand, dass die Polizei den Zeugen B. telefonisch kontaktierte, aktenkundig ist […]). Daraus resultiert jedoch weder eine Verletzung des Rechts auf eine wirksame Strafverteidigung noch ein Verbot der Verwertung der “Freier-Adressen” und der Aussagen des Zeugen B. Der Beschwerdeführerin wurde nicht verunmöglicht, sich wirksam zu verteidigen. Sie weiss, wie bzw. nach welchen Grundsätzen sie ihre Adressen führt(e), und hätte daher geltend machen können (und müssen), dass und weshalb sich aus ihren Adressdaten kein Schluss auf “offensichtliche Freier-Adressen” ziehen lässt. Überdies machte der Zeuge B. anlässlich der staatsanwaltschaftlichen Einvernahme vom 4. Februar 2011 im Beisein der Beschwerdeführerin und ihres Rechtsvertreters (auf deren Fragen hin) präzise Angaben zum Inhalt des polizeilichen Telefongesprächs. Demnach hatte die Beschwerdeführerin auch hierüber Kenntnis (E. 3.2, Hervorhebungen durch mich).

Ich bin gespannt, wie die Lehre diesen Fall aufnehmen wird. Interessant ist auch, dass am Entscheid ein Richter mitgewirkt hat, der im Zeitpunkt des Urteils gar nicht mehr der Strafrechtlichen Abteilung angehörte. Dafür hat ein Mitglied der Abteilung gefehlt (ich hätte hier auch lieber gefehlt).