Der Richter als unverbindlicher Ratgeber
Stationäre therapeutische Massnahmen werden nach Art. 59 Abs. 2 StGB in einer geeigneten psychiatrischen Einrichtung oder einer Massnahmenvollzugsanstalt vollzogen. Eine geschlossene Einrichtung ist nur vorgesehen bei Flucht- oder Wiederholungsgefahr (Art. 59 Abs. 3 StGB). In der Praxis werden viele Massnahmen in geschlossenen Einrichtungen vollzogen, obwohl das Gericht „nur“ eine Massnahme nach Art. 59 Abs. 2 StGB angeordnet hat. Das Bundesgericht sieht darin kein Problem. Es degradiert die Frage zur reinen Vollzugsfrage und überträgt die Verantwortung der Vollzugsbehörde. Diese kann nun unabhängig vom Urteil des Gerichts entscheiden, wie stark die Freiheit des Massnahmenpatienten beschränkt werden muss (BGE 6B_708/2015 vom 22.10.2015, Publikation in der AS vorgesehen).
Die Begründung des Bundesgerichts erscheint mir (nicht nur im Ergebnis) als unhaltbar und verschiedene Formulierungen lassen vermuten, dass nicht rechtliche sondern praktische Argumente zum Ergebnis führten. Bei den verschiedenen Auslegungsmethoden verzichtet das Bundesgericht auf die Regel der verfassungskonformen Auslegung der Gesetze. Anders ist nicht zu erklären, dass das Bundesgericht die höhere Eingriffsintensität von Abs. 3 anerkennt, den Entscheid aber trotzdem der Verwaltung überlässt.
Teilweise geht die Begründung auch von falschen rechtlichen Voraussetzungen aus. So führt das Bundesgericht aus, die Versetzung vom geschlossenen in den offenen Vollzug wäre nur durch Gerichtsurteil möglich, wenn es sich nicht um eine blosse Vollzugsfrage handeln würde. Dabei übersieht es, dass die Verwaltung eine richterlich angeordnete stationäre Massnahme sogar aufheben kann und nach Massgabe von Art. 62d StGB aufheben muss. Demgegenüber zieht das Bundesgericht Art. 62c Abs. 6 StGB heran, der seine Argumentation aber nicht bestätigt, sondern widerlegt:
Müsste die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung gemäss Art. 59 Abs. 3 StGB vom Gericht angeordnet werden, wäre sie mithin keine Vollzugsfrage, müsste das Gericht bei veränderten Verhältnissen in (analoger) Anwendung von Art. 62c Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 363 ff. StPO auch über die Versetzung vom geschlossenen in den offenen Vollzug gemäss Art. 59 Abs. 2 StGB entscheiden (E. 2.4.4).
Der absolute Hammer kommt dann aber erst noch:
Dennoch erscheint es sinnvoll, dass sich das Sachgericht in seinen Urteilserwägungen – nicht jedoch im Urteilsdispositiv – zu der Notwendigkeit eines geschlossenen Massnahmevollzugs äussert und den Vollzugsbehörden eine geschlossene Unterbringung des Betroffenen unverbindlich empfiehlt, wenn es die Voraussetzungen von Art. 59 Abs. 3 StGB im Urteilszeitpunkt als erfüllt erachtet (….) [E. 2.5].
Ich kenne die Verhältnisse nicht, die zu diesem Entscheid führten. Aber wer immer die Begründung geschrieben hat, dürfte mit dem Ergebnis nicht einverstanden sein.