Der Staat und seine Bürger
Ein immer paternalistischer oder totalitärer auftretender Staat verlangt von seinen Bürgern, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, bestraft zu werden. Er hat daher dafür zu sorgen, dass ihm Strafbefehle auch tatsächlich zugestellt werden können. Unterlässt er dies, gilt der Strafbefehl als zugestellt und der Beschuldigte als verurteilt. So kann man m.E. die Rechtsprechung interpretieren, die in BGer 6B_940/2013 vom 31.03.2014 zum Ausdruck kommt. Darin ist zu lesen:
Die Begründung eines Verfahrensverhältnisses verpflichtet die Parteien, sich nach Treu und Glauben zu verhalten, d.h. unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akte zugestellt werden können, welche das Verfahren betreffen (BGE 139 IV 228 E. 1.1 S. 230; 138 III 225 E. 3.1 S. 227; 130 III 396 E. 1.2.3 S. 399; je mit Hinweisen). Von einem Verfahrensbeteiligten ist zu verlangen, dass er um die Nachsendung seiner an die bisherige Adresse gelangenden Korrespondenz besorgt ist, allenfalls längere Ortsabwesenheiten der Behörde mitteilt oder einen Stellvertreter ernennt (BGE 139 IV 228 E. 1.1 S. 230; 119 V 89 E. 4b/aa; Urteil 6B_32/2014 vom 6. Februar 2014 E. 3; je mit Hinweisen) [E. 2.2.1].
Daran ändert nichts, dass die Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer mitgeteilt hatte, er müsse zunächst mit einer Vorladung rechnen. Mitteilungen der Staatsanwaltschaft sind bekanntlich nicht verbindlich:
Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass ein Verfahrensverhältnis bestand und er mit Mitteilungen der Staatsanwaltschaft rechnen musste. Er hatte zu gewährleisten, dass ihm diese zugestellt werden können. Eine etwaige Abwesenheit hätte er der Staatsanwaltschaft melden müssen. Andernfalls hätte er einen Stellvertreter organisieren müssen. Dabei ist irrelevant, ob er mit einer Vorladung oder einem Strafbefehl rechnete bzw. rechnen musste (siehe Beschwerde S. 10 f. Ziff. 16). Seine Ausführungen, wonach er aufgrund des Hinweises der Staatsanwaltschaft in der Eröffnungsverfügung lediglich Vorladungen habe erwarten müssen, gehen an der Sache vorbei. Jedenfalls ist die vorinstanzliche Interpretation, ihm sei nicht verbindlich mitgeteilt worden, dass im August und September 2012 erste Vorladungen verschickt würden, nicht zu beanstanden (Beschluss S. 5 Ziff. 3.3) [E. 2.2.2].
Ich anerkenne durchaus, dass das Grundübel in der von Effizienzüberlegungen gesteuerten Regelung des Strafbefehlsverfahrens liegt. Ich frage mich aber schon, wem es eigentlich nützt, die Bürger wie Schuljungen zu behandeln und von den Strafbehörden nicht einmal zu verlangen, ihre (potentiellen) Strafurteile auch tatsächlich zu eröffnen, statt auf Fiktionen abzustellen.
Es ist schon interessant, dass der Schuldner im Betreibungsverfahren besser geschützt ist, als der Beschuldigte im Strafverfahren.
Inwiefern ist dieser Entscheid mit BGE 6B_908/2013 vereinbar? Bei beiden Entscheiden waren die Bundesrichter Mathys, Oberholzer und Rüedi beteiligt. In beiden Fällen wurden die Einschreiben von den Betroffenen nicht abgeholt.
In BGE 6B_908/2013 auferlegen unsere Bundesrichter “die Verantwortung für die Einhaltung der ‘Grundsätze des Strafverfahrensrechts’ bei der Fortsetzung des Verfahrens” (hier die Zustellung per Post) den Behörden (Erwägung 2.6).
Im jetzigen Entscheid dagegen “hätte der Beschwerdeführer gestützt auf den Grundsatz von Treu und Glauben gewährleisten müssen, dass sie ihm zugestellt werden und er innert Frist darauf reagieren kann” (BGE 6B_940/2013, Erwägung 2.2.4)?
Interessant.Immer wieder diese Kombination Mathys Präsident,Rüedi, oder Denys, oder Oberholzer. Immer geht es um die Zustellung von Strafbefehlen die nicht abgeholt wurden, oder wie im Urteil vom März 2014 6B-169/2014 nicht abgeholt werden konnte. Schon bei der polizeilichen Einvernahme wurde darauf hingewiesen, dass ein mehrmonatiger Auslandaufenthalt in wenigen Tagen angetreten werde, da eine missbräuchliche Anschuldigung wegen Hausfriedensbruch im Raume stand. Dem Staatsanwalt wurde dies nochmals per Lettre Signature mitgeteilt, was diesen nicht daran hinderte innert 20 Tagen – im vollen Wissen der Abwesenheit – eine Strafverfügung zu erlassen. Es wurde weder geprüft ob der Strafantrag gültig unterschrieben war, noch ob überhaupt die Person Kenntnis hatte vom Hausverbo, ein Verstoss gegen 29 Abs 2 BV, Art 32 BV und Art 6 EMRK. Es wurde die fiktive Zustellung vorgeschoben, um das ungereimte Vorgehen des Staatsanwaltes zu schützen. Die Einsprüche wurden während 2 1/2 Jahre über das Bezirksgericht, BeschwerdeKammer OG, Strafkammer OG verschleppt, inkl. Fehler der Gerichte über die Zuständigkeit. Das BG konnte aber anscheinend innert ca 30 Tagen das umfangreiche Dossier anschauen, nicht eingehend auf die meisten Argumente die Vorgehensweise des OG voll bestätigen. Unvorstellbar, dass in einem Rechtstaat eine Person verurteilt wird,
ohne dass sie je angehört wurde, noch sich verteidigen konnte.Im Namen der Effizienz sogar der Staatsanwalt es unterlassen hatte, die anklagenden Facts überhaupt zu prüfen.
Unsere Ansicht ist, dass durch eine polizeiliche Einvernahme noch kein Rechtsverhältnis zustande kommen kann, dass zwingend eine Zustellfiktion erlauben würde. Zudem konnte darauf abgestellt werden, dass die missbräuchliche Anzeige durch den untersuchenden Staatsanwalt als solche erkannt werden würde. Als letztes hat die verurteilte Person genau das gemacht, was Mathys im BG Urteil forderte, nämlich die Behörden ausführlich und rechtzeitig über die Abwesenheit orientiert. Dies wurde der verurteilten Person gerade vom BG vorgehalten, sie sei eben ihrer Pflicht nicht nachgekommen, die Behörden über die Abwesenheit orientiert zu haben. Eine Seite abstruser Erwägung für Sfr. 2000.– ein Skandal.
Spannend wäre, was der EGMR zum konkreten Fall sagen würde, vor dem Hintergrund einer in der Vergangenheit kritischen Beobachtung des Strafbefehlsverfahrens und der Zustellfiktion…
@rm: Ich finde es himmeltraurig, dass für solch grundlegende Fragen immer öfters der ausländische(!) EMGR angerufen werden muss!
Ein heutiger Willhelm Tell müsste sich nicht mehr gegen habsburgische ‘Besetzer’ wenden sondern die eigene Obrigkeit.
Wenn man sich informiert, was der emeritierte Jus-Professor Rainer J. Schweizer über die neuste Rechtsentwicklung denkt, kommt man ins Grübeln.
https://www.digitale-gesellschaft.ch/2014/02/13/ehemaliger-praesident-der-datenschutzkommission-die-politik-bewegt-sich-kaum-es-ist-erschuetternd/
https://www.plaedoyer.ch/artikel/d/cyber-crime-wird-staatlich-geduldet/
@Richard Papp. Die machen schon lange Einzelfall Jurisprudenz und nehmen ihre Aufgabe, die Grundsätze der Rechtsprechung festzusetzen, nicht mehr war – oder sie unterzeichnen einfach, was der Gerichtsschreiber, die Schreiberin zuträgt.