Der Strafbefehl als vollstreckbares Urteil
Ein rechtskräftiger Strafbefehl, mit dem der Täter zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt wird, kann im Rahmen des Strafvollzugsverfahrens nicht mehr infrage gestellt werden (BGer 6B_19/2019 vom 19.06.2019).
Vor Bundesgericht war auch die rechtswirksame Eröffnung des fraglichen Strafbefehls Thema. Dieser war offenbar nur dem damaligen Anwalt des – leider – im Ausland wohnhaften Beschwerdeführers zugestellt worden:
Parteien mit Wohnsitz im Ausland haben in der Schweiz ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen (Art. 87 Abs. 2 StPO). Mitteilungen an Parteien, die einen Rechtsbeistand bestellt haben, werden rechtsgültig diesem zugestellt (Art. 87 Abs. 3 StPO). Diese Bestimmung ist zwingender Natur und lässt keinen Raum für einen von der vertretenen Partei oder deren Rechtsbeistand angebrachten Vorbehalt, nach welchem Mitteilungen in der Sache, in welcher der Rechtsbeistand eingesetzt wurde, direkt an die vertretene Partei zugestellt werden können. Ist ein Rechtsbeistand bestellt, können Mitteilungen nur an diesen zugestellt werden (BGE 144 IV 64 E. 2.5 S. 66 ff.; Urteil 6B_1006/2018 vom 15. Januar 2019 E. 2.2). [E. 1.3.1].
Und was geschieht, wenn der Anwalt den Strafbefehl seinem Klienten nicht oder nicht rechtzeitig zur Kenntnis bringt und keine Einsprache einreicht? Pech gehabt:
Selbst eine allfällige Einsprachefristversäumnis des Rechtsvertreters böte keinen Entschuldigungsgrund für eine Wiederherstellung der jedem Strafverteidiger geläufigen zehntägigen Einsprachefrist gegen den Strafbefehl. Nach allgemeinem Rechtsgrundsatz hat sich der Vertretene, für den Dritten erkennbare Bösgläubigkeit des Vertreters vorbehalten (BGE 52 II 358 E. 1 S. 360 f.), das Verhalten des Rechtsvertreters anrechnen zu lassen, sodass bei durch den Vertreter verschuldeter Fristversäumnis kein Wiederherstellungsgrund vorliegt (Urteil 2C_1035/2018 vom 10. Januar 2019 E. 2.2 mit Hinweisen) [E. 1.3.3, Hervorhebungen durch mich].
Das bedeutet theoretisch, dass man u.U. auch eine Freiheitsstrafe absitzen muss, obwohl man nicht einmal wusste, dass überhaupt ein Verfahren lief oder dass man zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Das kann nicht richtig sein und gilt grundsätzlich ohnehin nur, wenn man im Ausland wohnt (macht es nicht besser). Wohnt man in der Schweiz, muss der Strafbefehl bzw. das Strafurteil direkt eröffnet werden (Art. 84 StPO). Ist er rechtskräftig, kann man ihn nur noch angreifen, wenn er nichtig ist:
Im Vollzugsverfahren kann die rechtskräftig abgeurteilte Strafsache nicht neu aufgerollt und zur Beurteilung gestellt werden. Nach einer Parömie gilt denn auch: res iudicata pro veritate accipitur/habetur (vgl. Urteil 6B_291/2018 vom 17. Oktober 2018 E. 4.1). Die rechtskräftig entschiedene Sache wird für Wahrheit angenommen/gehalten. Das dient der Rechtssicherheit und dem Friedensziel der Rechtsordnung (E. 1.4).
Der (Rechts-)Friede sei mit Euch! Was beweist, dass die viel beschworene materielle Wahrheit nicht über allem stehen kann. Die zitierte Parömie im Strafrecht anzuwenden, erscheint mir trotzdem etwas gewagt.
Anmerkung zum Kommentar: Ohne dass der Beschuldigte weiss, dass ein Verfahren läuft, kann man keinen Strafbefehl erlassen. Das wäre eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und der Strafbefehl wäre nichtig.
Kommt aber immer wieder vor. Ob man mit Nichtigkeit durchkommen würde, wage ich zu bezweifeln.
Der Strafbefehl wird schriftlich eröffnet (Art. 353 Abs. 3 StPO). Insofern ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der Strafbefehl eingeschrieben geschickt wurde und nicht mündlich eröffnet wurde (sofern dies mit “direkt eröffnet” gemeint ist). Dass der Strafbefehl an den professionellen Rechtsvertreter geschickt wurde, entspricht der gesetzlichen Ordnung und ist auch ohne Weiteres im Rahmen des Nachvollziehbaren. Dass der Rechtsvertreter es in der Folge versäumt, seinen Klienten rechtzeitig zu informieren, kann nicht den Strafbehörden angelastet werden. Soweit der Klient (vorerst) unerreichbar war, hätte eine Einsprache, welche bekanntlich als Beschuldigter nicht begründet werden muss (Art. 354 Abs. 2 StPO), auch vorsorglich erhoben werden können. Ich sehe also das Problem nicht. Dass auch Rechtsvertreter eine Sorgfaltspflicht trifft, ist jedenfalls nicht zu viel verlangt.
Das Problem ist, wenn der Beschuldigte für einen Fehler seines Anwalts “bezahlen” (u.U. ins Gefängnis) muss.
Wenn das Versagen der Verteidigung tatsächlich flächendeckend als Revisionsgrund anerkannt würde, dann wäre ein erschreckend grosser Anteil der Strafentscheide in akuter Gefahr …
Das Urteil steht doch im Widerspruch zu BGer, Urteil 6B_1111/2017 vom 7. August 2018, wonach eine grobe Verfehlung der Verteidigung (in casu: die Berufungsfrist verpasst) die Wiederherstellung der Frist erlaubt. Wieso soll das hier (bei im Ausland lebenden Personen) nicht gelten? Kann sich das BGer nicht einmal konsistent zeigen?
Tja, das kommt davon, wenn man beginnt den Grundsatz, dass eine Zustellung an den Rechtsvertreter gültig erfolgen kann und dessen Fehler anzurechnen sind, aufzuweichen beginnt. Rechtssicherheit ade! In der Tat ist das Verhältnis des früheren BGer Urteils aus dem 2018 und dem neueren Entscheid nicht unbedingt klar. Interessant auch, dass im neueren Entscheid mit keinem Wort auf den 2018er-Entscheid Bezug genommen wird, sondern nur auf einen uralten BGE (siehe E. 1.3.3).