Der unabhängige Richter als Vertreter des Anklägers

Für Russland gilt eine andere EMRK als für die Schweiz, weshalb die Rechtsprechung des EGMR nicht unbesehen auf die Schweiz übertragen werden kann. Mit diesem Argument hält das Bundesgericht in einem heute publizierten Entscheid weiterhin an einem inquisitorisch geprägten Element des Strafprozesses fest (BGer 6B_1442/2017 vom 24.10.2018, Fünferbesetzung) und lässt weiterhin zu, dass die Anklage vor Gericht nicht (bzw. durch das unabhängige Gericht selbst) vertreten wird.

Zu diesem Zweck muss sich das Bundesgericht mit der Rechtsprechung des EGMR auseinandersetzen (vgl. insbesondere Urteile Ozerov gegen Russland vom 18. Mai 2010, Nr. 64962/01;  Krivoshapkin gegen Russland vom 28. Januar 2011, Nr. 42224/02; und  Karelin gegen Russland vom 20. September 2016, Nr. 926/08) und diese mit m.E. wenig überzeugenden Argumenten an die schweizerische Rechtswirklichkeit anpassen. Ein schweizerischer Richter verliert seine Unabhängigkeit quasi von Gesetzes wegen nie:

Die zuvor beschriebene aktive Rolle des Gerichts bei der Beweisführung ist dem schweizerischen System inhärent. Das Gericht ist dazu unabhängig davon verpflichtet, ob die Staatsanwaltschaft an der Gerichtsverhandlung anwesend ist oder nicht. Dass die Anwesenheit der Staatsanwaltschaft keine grössere Auswirkung auf das Verhalten der Gerichtspersonen bei von ihnen durchgeführten Befragungen hat, ergibt sich auch aus den Resultaten des unter Berücksichtigung der einschlägigen EGMR-Rechtsprechung durchgeführten Forschungsprojekts “Trial Observation”. Ein Zusammenhang zwischen “übermässiger” richterlicher Aktivität und Abwesenheit der Staatsanwaltschaft konnte im Rahmen dieses Forschungsprojekts nicht festgestellt werden (siehe dazu SUMMERS, a.a.O., insb. S. 455). Ein solcher wird vom Beschwerdeführer denn auch weder allgemein noch konkret auf den vorliegenden Fall bezogen behauptet. Ebenso wenig kann gesagt werden, das Gericht übernehme bei den Befragungen die Rolle der Staatsanwaltschaft, da die Befragungspflicht – auch bei Anwesenheit der Staatsanwaltschaft – der Verfahrensleitung des Gerichts obliegt (Art. 341 Abs. 1 StPO). Schliesslich hat die Anwesenheit der Staatsanwaltschaft auch auf die Aufrechterhaltung der Anklage keinen Einfluss, nachdem diese – anders als im russischen Recht – an der Hauptverhandlung nach einer allfälligen Behandlung von Vorfragen nicht mehr zurückgezogen werden kann (Art. 340 Abs. 1 lit. b StPO; oben E. 5.6.3). Das gesetzmässige Vorgehen des Gerichts bei der Beweisführung, wie es in der StPO auch in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft vorgesehen ist, führt daher nicht per se zur Befangenheit der betroffenen Richter (vgl. dazu bereits Urteil 6B_373/2018 vom 7. September 2018 E. 3.3.1) [E. 5.7].

Sich zumindest indirekt auf Summers zu berufen, halte ich für gewagt, zumal sie das Bundesgericht vorher wie folgt zitiert:

In der Lehre wird die Auffassung vertreten, die relativ weitgehende Rechtsprechung des EGMR in Sachen Ozerov und Krivoshapkin könnte auch für die Schweiz von Bedeutung sein (SARAH SUMMERS, Überlegungen zur Unparteilichkeit und der richterlichen Befragung, in: Festschrift für Andreas Donatsch, 2017, S. 443 ff., 448). Die richterliche Aktivität bei Befragungen der beschuldigten Person und der Zeugen scheine das Potential zu haben, die richterliche Unparteilichkeit infrage zu stellen (SUMMERS, a.a.O., S. 456) [E. 5.4].