Die Grenzen der Zustellfiktion

Ein Berufungsgericht schrieb ein Berufungsverfahren infolge Rückzugs der Berufung ab, nachdem der Berufungskläger nicht erschienen war. Die Vorladung hatte ihm nicht zugestellt werden können, weil er sich “nach unbekannt” abgemeldet hatte. Das Berufungsgericht berief sich auf die Zustellfiktion (Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO). Die Verteidigerin erschien zwar zur Verhandlung, allerdings 20 Minuten zu spät, weil sie sich den Termin falsch notiert hatte. Sie wurde nicht mehr zugelassen.

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde des Berufungsklägers in Fünferbesetzung gut (BGer 6B_652/2013 vom 26.11.2013). Es dreht den Spiess um und wirft dem Berufungsgericht vor, den Berufungskläger nicht ordnungegemäss vorgeladen zu haben:

Die Vorladung zur Berufungsverhandlung des Beschwerdeführers konnte ihm nicht zugestellt werden. Die Post retournierte sie der Vorinstanz mit dem Vermerk “Empfänger konnte unter angegebener Adresse nicht ermittelt werden” (Beschluss S. 2 E. 2; kantonale Akten act. 136). Sie wurde somit nicht bei der Post zur Abholung hinterlegt. Die Zustellfiktion gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO ist nicht anwendbar. Abklärungen des Gerichts ergaben lediglich, dass sich der Beschwerdeführer nach unbekannt abgemeldet hatte. Da die Vorinstanz trotz entsprechender Nachforschungen den Aufenthaltsort des Beschwerdeführers nicht in Erfahrung bringen konnte, hätte sie die Vorladung zur Berufungsverhandlung in Anwendung von Art. 88 Abs. 1 lit. a StPO im Amtsblatt veröffentlichen müssen. Entgegen ihrer Auffassung besteht angesichts der konkreten Umstände kein Raum für eine analoge Anwendung von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur Zustellfiktion. Mangels ordnungsgemässer Vorladung des Beschwerdeführers zur Berufungsverhandlung blieb er ihr nicht unentschuldigt fern.