Die psychische Störung sui generis
Wer geglaubt hatte, das Bundesgericht setze der kleinen Verwahrung, die es nicht als kleine Verwahrung bezeichnet haben will (vgl. meinen früheren Beitrag), Grenzen, der sieht sich anhand eines neuen Grundsatzurteils eines Besseren belehrt (BGE 6B_933/2018 vom 03.10.2019, Publikation in der AS vorgesehen).
Im vorliegenden Fall ging es zwar leidglich um eine ambulante Massnahme, aber die Voraussetzung der schweren psychischen Störung ist auch dafür Voraussetzung. Weil der Störungsbegriff aber funktional konzipiert sei (es lebe die Jurisprudenz!) ist der Entscheid für stationäre Massnahme möglicherweise doch nicht so bitter. Verteidiger werden argumentieren können, er sei für stationäre Massnahmen nicht einschlägig.
Anlass zu grösster Sorge gibt aber dennoch die nun explizit ausgesprochene Möglichkeit, auch Störungen, die in den in den diagnostischen Klassifikationen keine Entsprechung finden, als schwere psychische Störungen zu qualifizieren, nämlich als Störungen sui generis.
Der sprachlich hervorragend redigierte Entscheid ist etwas vom Schlimmsten, das ich in diesem Bereich seit langem gelesen habe. Mit diesem Entscheid kann nun – jedenfalls bei vollzugsbegleitenden ambulanten Massnahmen – einfach alles begründet werden. Keine Sanktion ohne Gesetz (Art. 1 StGB) war gestern.
Der Entscheid wird wohl auch auf stationäre Massnahmen Anwendung finden, nachdem sich der Begriff der schweren psychischen Störung in den Art. 59 und 63 StGB deckt (vgl. E. 3.5.2 des Urteils).
Möglich, aber der Begriff ist aber eben funktional konzipiert.
6B_828/2019 lässt uns nun jede Hoffnung begraben, stationäre Maßnahmen seien von dieser absolut unverständlichen und gesetzwidrigen Rechtsprechung nicht betroffen. Eigentlich musste man dies schon aufgrund der bereits zitierten E. 3.5.2. annehmen. Das Massnahmenrecht gerät nun völlig aus den Fugen.
Diese rechtssprechung ist der vorläufige höhepunkt einer entwicklung, in welcher die justiz der auf absolute sicherheit fokussierten (vermeintlichen oder tatsächlichen) öffentlichen meinung gefallen will. Es ist nicht mehr weit bis uhrwerk orange. Vielleicht sind wir auch schon da und haben es nicht gemerkt.
Ich bin über den Entscheid erstaunt, haben doch die in letzter Zeit stattgefundenen Weiterbildungsveranstaltungen in Basel (Streitgespräch zw. den Professoren Endrass und Habermeyer), Bern (kant. Weiterbildung) und Zürich (Tagung Heer vom letzten Jahr) eher zutage gefördert, dass die aktuelle Situation zwar nicht immer befriedigend sei, aber nicht geändert werden solle. Nun schwenkt das BGer faktisch auf die Urbaniok-Linie. D.h. prägnante Persönlichkeitsmerkmale, welche behandelbar und deliktrelevant sind, sollen auch einer Behandlung zugeführt werden können. So stammen denn auch die in den Entscheiden wesentlichen Persönlichkeitsmerkmale (Dominanzfokus in 6B 933/2018; Vergewaltigungsdisposition in 6B 828/2019) bezeichnenderweise aus dem FOTRES (Forensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System). Für die Praxis bedeutet dies höhere fachliche Anforderungen an alle Beteiligten, da faktisch ein neues Diagnosesystem eingeführt wird, von welchem man, zumindest rudimentäre, Kenntnisse mitbringen muss. Das Vorliegen der FOTRES-Persönlichkeitsmerkmale können also (bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen) für die Anordnung einer 63-er (aber auch 59-er-Massnahme) genügen. Allerdings wird der Verhältnismässigkeitsprüfung hier eine herausragende Bedeutung zukommen – einerseits bezüglich der Art, aber v.a. auch bezüglich der Dauer der Massnahme. So ist daran zu erinnern, dass bei Erstandordnungen von Massnahmen eine (bedeutend) kürzere Dauer als 5 Jahre angeordnet werden kann. Da Freiheitsstrafen nur bei Situationstätern eine deliktspräventive Wirkung haben , nicht aber bei Persönlichkeitstätern, ist die neue Rechtsprechung im Ergebnis zu begrüssen. ICD-10 (bald 11) und DSM-V wurden nicht zum Zweck geschaffen, im Strafrecht eingesetzt zu werden. Ob sich bei den Medizinern langfristig der Weg über FOTRES, oder der – allerdings bisher nicht weiter diskutierte – Weg über die ICF (wie von Prof. Lorenz an der Berner Weiterbildung vorgetragen) durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Zu begrüssen ist jedoch, dass das Bundesgericht den juristischen Begriff „schwere psychische Störung“ mit Inhalt füllt und das Feld nicht einfach den Medizinern überlässt, die diese Aufgabe gar nicht erfüllen können. Damit werden die Entscheide der Gerichte voraussehbarer, was insbesondere auch für Verlängerungs- und Umwandlungsentscheide gilt.
Viele Menschen brauchen Sand! Also gründet man eine Firma, die Sand in drei Qualitäten verkauft: Grob, Mittel und Fein!
Ein Mitarbeiter, der keine Lust zu arbeiten hat, denkt sich, er müsse die anderen Arbeiter davon überzeugen, dass zwei Qualitäten ausreichend seien und so stellt man das Sieb für den groben Sand auf die Seite und arbeitet weiter. Plötzlich fällt auf, dass kleine Steinchen übrig bleiben und die Menge des produzierten Sandes zurückgeht! Und so kommt ein weiterer Theoretiker auf die Idee, es läge an der Menge der Siebe und reduziert hier noch mal das mittlere Sieb. Es bleiben noch mehr Sternchen übrig!
Die Leute sind ja nicht dumm! Und so verkaufen sie die Steine heute als Heilsteine in den unterschiedlichsten Farben und Formen! Aber Sand, simplen einfachen Sand verkaufen sie schon lange nicht mehr!
Und so ist das auch in der Psychiatrie! Je feiner und enger wir die Maschen des „Normalen“ legen, desto mehr Menschen werden zu etwas Besonderem! Und, leider ist das oftmals so, fallen sie über den Tellerrand unserer Gesellschaft! Sie werden nämlich nicht als Heiler, sondern als Trottel betrachtet!