Die Razzia als strafprozessuales Rechtsinstitut
Das Bundesgericht kassiert ein Urteil des Obergerichts AG, weil die tatsächlichen Feststellungen, welche für die rechtliche Beurteilung notwendig gewesen wären, nicht gemacht wurden (BGer 6B_1409/2019 vom 04.03.2021, Fünferbesetzung). Das Beschwerdeverfahren dauerte deutlich über ein Jahr, nur um dann in Fünferbesetzung festzustellen, dass ein Entscheid nicht möglich sei. Das ist schon deshalb bedauerlich, weil die sich stellenden Rechtsfragen sehr spannend und praktisch relevant sind.
Es geht um eine polizeiliche Kontrolle in einem Clublokal, die in der Folge zu einer Verurteilung nach Art. 117 Abs. 2 AIG führte. Fraglich ist, ob die Kontrolle zulässig war. Gemäss Vorinstanz handelte es sich um eine Kontrolle nach BGSA. Die erste Instanz war noch davon ausgegangen, bei der Kontrolle habe es sich um eine Personenkontrolle nach § 29 Abs. 1 PolG/AG gehandelt. Bereits diese unterschiedlichen Auffassungen sprechen Bände.
Das Bundesgericht verwirft die Auffassung der Vorinstanz und kassiert deren Urteil:
Weder dem Polizeirapport vom 19. Februar 2018 (….), noch den Berichten von Wachtmeister D. und Staatsanwältin E. vom 29. November 2017 (…) ist zu entnehmen, dass bei der Kontrolle vom 28. November 2017 im Lokal des Vereins B. in U. eine Inspektorin des MIKA anwesend war. Auch aus dem Umstand, dass gemäss einer – in den Akten nicht auffindbaren – Medienmitteilung der Kantonspolizei am 28. November 2017 im Bezirk Zofingen eine “Aktion gegen illegale Glücksspiele und Schwarzarbeit” stattgefunden haben soll, lässt sich hinsichtlich der Frage, wer an der betreffenden Kontrolle tatsächlich teilgenommen hat, nichts ableiten. Art. 7 Abs. 2 BGSA erlaubt dem zuständigen Kontrollorgan zwar, sich im Bedarfsfall von der Polizei unterstützen zu lassen, nicht aber, die Kontrolle an diese oder an die Staatsanwaltschaft zu delegieren. Im Ergebnis findet sich in den Akten kein Nachweis dafür, dass die zur Diskussion stehende Kontrolle im Rahmen des BGSA erfolgte und dass sie durch das zuständige MIKA durchgeführt wurde. Dass die Missachtung der in Art. 9 Abs. 1 BGSA festgehalten Protokollierungspflicht gemäss Auffassung der Vorinstanz lediglich eine Ordnungsvorschrift darstellen soll, ändert daran nichts (E. 1.4).
In der Folge suchte das Bundesgericht nach einer anderen Grundlage für die Kontrolle, die es aber auch nicht fand:
Den Akten ist keine schriftliche Anordnung der fraglichen Kontrolle – auch keine nachträgliche Bestätigung der Staatsanwaltschaft – zu entnehmen. Ob die Kontrolle rechtmässig erfolgte, lässt sich weder aufgrund des erst- oder vorinstanzlichen Urteils noch der Akten entscheiden. Insbesondere fehlen im angefochtenen Entscheid tatsächliche Feststellungen hinsichtlich der Zugänglichkeit des vom Beschwerdeführer betriebenen Lokals. So ist beispielsweise unklar, ob das Lokal des Vereins B. einer unbestimmten Zahl von Personen offensteht oder ob es lediglich von Vereinsmitgliedern, d.h. einem bestimmten, begrenzten Kreis von Personen, aufgesucht werden darf. Unklar ist sodann, ob allenfalls von einer Anordnungskompetenz bei “Gefahr im Verzug” im Sinne von Art. 213 Abs. 2 StPO bzw. Art. 241 Abs. 3 StPO ausgegangen werden konnte. Die Vorinstanz setzt sich mit diesen Fragestellungen nicht auseinander. Das genügt den Anforderungen von Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG nicht (E. 1.7).
Dafür äussert sich das Bundesgericht u.a. zum Verhältnis zwischen sicherheitspolizeilichen und strafprozessualen Massnahmen und definiert bei dieser Gelegenheit den Begriff der Razzia (Art. 215 Abs. 4 StPO):
Ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte anzunehmen, dass an einem bestimmten Ort Straftaten im Gange sind oder sich dort beschuldigte Personen aufhalten, so kann die Polizei diesen Ort absperren und die sich dort aufhaltenden Personen anhalten (Art. 215 Abs. 4 StPO). Die in Absatz 4 geregelte Massnahme wird auch als Razzia bezeichnet. Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie auch dann angeordnet werden darf, wenn davon auszugehen ist, dass eine Grosszahl der von ihr betroffenen Personen keinerlei Bezug zur abzuklärenden Straftat hat. Die Bestimmung will klarstellen, dass das Verhältnismässigkeitsprinzip einer solchen Massnahme nicht a priori entgegensteht. Selbstverständlich ist diesem Prinzip und dem Erfordernis eines genügenden öffentlichen Interesses jedoch besondere Beachtung zu schenken (…). Unter Razzia wird eine breit angelegte Identitätskontrolle verstanden, bei der mit einem grösseren Polizeiaufgebot in Häusern, Restaurants etc., in denen deliktische Aktivitäten oder die Anwesenheit von verdächtigen Personen vermutet werden, eine Mehrzahl von Personen kontrolliert und falls erforderlich zur näheren Abklärung auf den Polizeiposten verbracht werden. Vereinfacht gesprochen handelt es sich um eine auf die Kontrolle einer Mehrzahl von Personen gerichtete Anhaltung, die auch Elemente der Hausdurchsuchung enthält (Begleitbericht zum Vorentwurf für eine Schweizerische Strafprozessordnung, 2001, S. 156). Die Razzia ist ein strafprozessuales Rechtsinstitut, das eine polizeiliche Anhaltung mehrerer Personen und zu diesem Zweck die polizeiliche Absperrung eines bestimmten Ortes zum Gegenstand hat (vgl. ULRICH WEDER, in: Donatsch und andere [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2020, N. 24 zu Art. 215 StPO). Art. 215 Abs. 4 StPO erlaubt bloss die Absperrung eines Ortes und die Anhaltung von Personen, soweit allgemein zugängliche Räumlichkeiten betreten werden müssen, sonst ist Artikel 212 StPO [Art. 213 StPO Betreten von Räumlichkeiten] zu beachten (Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1225 Ziff. 2.5.3.2). Müssen zur Anhaltung oder Festnahme einer Person Häuser, Wohnungen oder andere nicht allgemein zugängliche Räume betreten werden, sind nach Art. 213 Abs. 1 StPO die Bestimmungen über die Hausdurchsuchung zu beachten (MOREILLON/PAREIN-REYMOND, a.a.O., N. 27 zu Art. 215 StPO; THORMANN/BRECHBÜHL, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 28 zu Art. 244 StPO). Ist Gefahr im Verzug, so kann die Polizei nach Art. 213 Abs. 2 StPO Räumlichkeiten auch ohne Hausdurchsuchungsbefehl betreten. Erfordert die Lage auch ein Betreten und Durchsuchen von nicht öffentlichen Räumlichkeiten, sind dazu durch die Staatsanwaltschaft die entsprechenden Hausdurchsuchungsbefehle zu erlassen (ALBERTINI/ARMBRUSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 28 zu Art. 215 StPO; ULRICH WEDER, a.a.O., N. 26 und N. 29 zu Art. 215 StPO; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, a.a.O., N. 29 zu Art. 215 StPO) [E. 1.6.2, Hervorhebungen durch mich].
Ein Durchsuchungsbefehl ist auch bei öffentlich zugänglichen Räumlichkeiten erforderlich:
Geschäftsräume der Dienstleistung oder des Verkaufs, wie z.B. Einkaufsgeschäfte, Theater, Kinos sowie Gaststätten und Amtslokale sind regelmässig öffentlich zugänglich. Auch sie sind indes dem Anwendungsbereich von Art. 244 StPO unterworfen, da ihre öffentliche Zugänglichkeit immer nur in den Grenzen ihrer Zweckbestimmung und nicht auch für staatliche Eingriffe in Form von Hausdurchsuchungen besteht (THORMANN/BRECHBÜHL, a.a.O., N. 4 f. zu Art. 244 StPO; vgl. auch Urteil 6B_899/2017 vom 3. Mai 2018 E. 1.7.3; je mit Hinweisen) [E. 1.6.3].
Und weil keiner in den Akten lag, konnte das Bundesgericht nicht entscheiden. Honi soit qui mal y pense.
Haben Sie die verfahrensnummer gesehen? Über 1400 verfahren alleine in der strafrechtlichen abteilung! Kein wunder, dauert es über ein jahr für einen entscheid. Von der qualität der rechtsprechung spreche ich noch gar nicht. Vielleicht wäre es an der zeit, ernsthaft darüber nachzudenken, ob nicht jeder habakuk vor bundesgericht gezogen werden kann. Aber wahrscheinlich ist das ein viel zu gutes business für die anwaltschaft.
@H. Bakuk: Manchmal lassen ihre rechtlich klugen Kommentare erkennen, dass Sie gut daran taten, nicht Anwalt und nicht selbständig erwerbend zu werden. Ich möchte mal wissen, wie man mit einer Beschwerde in Strafsachen ein Business machen kann. Im Einzelfall – mit wohlhabenden Klienten (die brauchen in der Regel aber kein Bundesgerichtsverfahren) – kann man bestimmt etwas verdienen, auch wenn sich das für Anwälte nicht gehört. Aber Bundesgericht und Business vertragen sich – im Strafrecht – nun wirklich ganz schlecht.
@kj. Ich gebe zu, das mit dem business war etwas provokativ, um nicht zu sagen polemisch (auch ich bin nicht unfehlbar ;-)). Trotzdem kann man sich fragen, ob es wirklich die aufgabe eines höchsten gerichts ist, sich mit kraut und kabis auseinanderzusetzen. Aber das ist ein weites feld und gehört ja hier eigentlich nicht zum thema.
@H. Bakuk: da bin ich ganz bei Ihnen. Kraut und Kabis gehört nicht ans Bundesgericht. Aber oft stellen sich die spannendsten Rechtsfragen eben in Bagatellstrafsachen. Deshalb ist es schwierig zu definieren, was bundesgerichtsfähig und -würdig sein soll.
Gilt das Urteil auch für fehlende Beschlagnahme- und Durchsuchungsbefehle i.S.v. Art. 263 StPO? Es müssten ja dann auch die strafprozessualen Regeln gelten, erst recht, wenn man einen solchen Befehl als Gültigkeitsvorschrift (was allerdings nicht unumstritten ist) betrachtet. So könnte man in den zahlreichen Fällen, wo z.B. private Videoüberwachungen “unkompliziert” ins Verfahren einfliessen, weil der Berechtigte sie freiwillig der Polizei aushändigt und die Staatsanwaltschaft den nachträglichen Erlass eines Befehls unterlässt, von Unverwertbarkeit ausgehen. Dies selbst dann, wenn das private Beweismittel vom Privaten auf (datenschutzrechtlich/persönlichkeitsrechtlich) zulässige Weise erhoben worden ist.
Ich hätte jetzt gesagt, dass dort, wo ein Privater dem Staat einen Beweis (z.B. Videoüberwachung) freiwillig zukommen lässt, gar keine Zwangsmassnahme vorliegt und deshalb von einem von Privaten autonom erlangten Beweismittel zu sprechen ist. Es käme deshalb einzig darauf an, ob der Private das Beweismittel rechtmässig erlangt hat. Liegt ein rechtswidrig von einer Privatperson erlangter Beweis vor, so ist zu prüfen ob er von den Strafbehörden hypothetisch rechtmässig hätte erlangt werden können und ob in casu eine schwere Straftat vorliegt (Art. 141 Abs. 2 StPO analog –> BGE 146 IV 226 E. 2).
@Tom: So sehe ich es auch. Den besten Beitrag dazu leistet Wohlers, Beweisverwertungsverbote nach privater Beweiserlangung – wann bzw. unter welchen Voraussetzungen dürfen rechtswidrig durch Private erlangte Beweismittel im Strafverfahren verwertet werden? in: forumpoenale Sonderheft 1/2020 198 ff.
@kj: Ja der Beitrag von Prof. Wohlers ist sehr gut. Zu diesem Thema es gibt auch noch andere neuere – z.B. von zwei Öffentlich-Rechtlern: Schefer/Schaub, Die Grundrechtsbindung «Privater» bei der Beweiserhebung für Straf- und Verwaltungsverfahren, fp Sonderheft 2/2020, 185 ff.
Dazu relevant ist auch BGE 145 IV 42 (insb. E. 4.4), wo die Staatsanwaltschaft Mitarbeitende mit Zustimmung des Geschäftsführers und Inhabers überwachen liess und das BGer zutreffend von einer staatlichen Beweisbeschaffung ausgeht.
Die Schweiz ist so ein reiches Land und kann es sicherlich verkraften, wenn das ein oder andere völlig aussichtslose Verfahren auf Kosten des Steuerzahlers an das Bundesgericht gezogen wird. Aus verteidigungstaktischen Gründen kann das sogar sinnvoll sein.
Ja das könnten wir. Dann sollten wir aber endlich einmal ein bis zwei neue ordentliche Richterstellen pro Abteilung (insb. in der strafrechtlichen) schaffen und das BGer nicht immer damit vertrösten, es könne ja gewiss einfach mehr Gerichtsschreiber_innen anstellen, die zwar weniger als die Hälfte kosten und fachlich ggf. genau so gut (oder schlecht) sind wie die Bundesrichter_innen, aber nun einmal keine Urteile fällen können. Es bringt einfach nichts wenn auf eine Richterstelle 6 oder 7 Gerichtsschreiberstellen kommen…