Die “Zugangsvermutung” und deren Widerlegung

Die Strafjustiz löst eine nicht unerhebliche Zahl ihrer Fälle durch gesetzliche oder natürliche Vermutungen sowie durch Fiktionen, die sich immer und soweit ersichtlich ausnahmslos zu Ungunsten der Rechtsunterworfenen auswirken.

Deutlich zu weit ging gemäss Bundegericht nun aber das Kantonsgericht LU, welches auf der Zustellung einer Abholungseinladung bestand, obwohl der Empfänger behauptet und belegt hat, dass er die Einladung nie erhalten hatte (BGer 6B_1002/2023 vom 15.11.2023):

Aufgrund des “Track & Trace”-Auszuges besteht somit die Vermutung, dass die Abholeinladung in das Postfach des Beschwerdeführers gelegt und das Zustelldatum korrekt registriert wurde. 

Für die Behauptung des Beschwerdeführers, keine Abholeinladung erhalten zu haben, spricht vorliegend indessen nicht nur, dass er sich nach der am 30. Juni 2023 erfolgten Zustellung der vorinstanzlichen Nichteintretensverfügung umgehend an die Schweizerische Post gewandt und sich über eine fehlerhafte Postzustellung beschwert hat, sondern insbesondere auch, dass die Schweizerische Post in einer Antwort-E-Mail vom 12. Juli 2023 mit dem Betreff “Fehlzustellung Postfach yyy, U. ” zuhanden des Beschwerdeführers ausdrücklich eingeräumt hat, dass “ein Brief von der Zustellerin falsch avisiert” worden sei, weshalb er – der Beschwerdeführer – “keine Möglichkeiten gehabt” habe, “diesen zu holen”. Diese Umstände, namentlich aber das explizite Einräumen einer Fehlzustellung im massgeblichen Zeitraum durch die Schweizerische Post selbst, wecken erhebliche Zweifel daran, dass am 12. Mai 2023 eine Abholeinladung in das Postfach des Beschwerdeführers gelegt wurde und der Zustellversuch des eingeschrieben versandten Urteils ordnungsgemäss erfolgte; dies gilt im Übrigen umso mehr, als die Schweizerische Post den Inhalt ihrer Antwort-E-Mail vom 12. Juli 2023 auf Nachfrage des Bundesgerichts am 19. Oktober 2023 in einer ersten Mitteilung abermals grundsätzlich bestätigte. Diese erheblichen Zweifel an einer ordnungsgemässen Zustellung verstärken sich weiter dadurch, dass sich die retournierte Postsendung, d.h. das eingeschrieben versandte Urteil mit Couvert, nicht in den dem Bundesgericht vorliegenden kantonalen Akten befindet; dem “Track & Trace”-Auszug lässt sich, anders als sonst üblich, im Übrigen auch nicht entnehmen, dass die zurückgesandte Postsendung vom Bezirksgericht wieder in Empfang genommen worden wäre. Insgesamt bestehen somit klar ausgewiesene Zweifel an einer ordnungsgemässen Zustellung und damit gleichsam hinreichend konkrete Anhaltspunkte für die Widerlegung der Zugangsvermutung der fraglichen Postsendung, ohne dass diese Anhaltspunkte durch die weiteren Vorbringen in der Beschwerde (zu vergangenen postalischen Falschzustellungen unter namentlicher Nennung von Zeugen) zusätzlich untermauert bzw. durch die zweite Mitteilung der Schweizerischen Post vom 19. Oktober 2023 (wonach “der Brief” laut der Postbotin doch richtig avisiert und ins richtige Fach gelegt worden sein soll) relativiert würden. 

Aus dem Gesagten folgt, dass das begründete Urteil des Bezirksgerichts dem Beschwerdeführer nicht rechtswirksam zugestellt wurde. Die fingierte Zustellung kann ihm demnach entgegen der Vorinstanz nicht entgegengehalten werden. Die Zustellfiktion gelangt nicht zur Anwendung (E. 4).