Digitalisierung oder PDF-isierung der Justiz?

Im aktuellen Heft plädoyer 01/2025, findet sich ein Streitgespräch (paywall) zwischen Kollegin Claudia Schreiber und Dr. Jacques Bühler (Bundesgericht) zum Thema Digitalisierung der Justiz. Kollegin Schreiber weist dabei auf ein wichtiges Thema hin, das in der bisherigen Praxis der Strafbehörden schlicht ignoriert wird:

Ein Stück Papier und eine Datei sind nicht das­ Gleiche. Viele verstehen unter ­Digitalisierung lediglich, Papier durch PDFs zu ersetzen und ­diese hin- und herzuschicken. Darum geht es nicht. Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Ubiquität, also die Allgegenwart von elektronischen Unterlagen. Denn Digitalisierung ist viel mehr als nur elektronischer Rechts­verkehr.

Dass der Umgang mit elektronischen Dossiers einen erheblichen Mehraufwand mit sich bringen wird, ist vielen nicht bewusst. Plädoyer nimmt das auf und fördert zu Tage, dass es für viele – mich eingeschlossen – noch ein langer Weg ist:

plädoyer: Claudia Schreiber, wie wird sich die Digitalisierung auf die Anwaltskanzleien auswirken?

Schreiber: Die Digitalisierung verändert alle Arbeitsabläufe grundlegend: Ein Stück Papier und eine Datei sind nicht das­ Gleiche. Viele verstehen unter ­Digitalisierung lediglich, Papier durch PDFs zu ersetzen und ­diese hin- und herzuschicken. Darum geht es nicht. Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Ubiquität, also die Allgegenwart von elektronischen Unterlagen. Denn Digitalisierung ist viel mehr als nur elektronischer Rechts­verkehr.

Bühler: Sie finden im Bundes­gesetz nirgends den Begriff PDF. Im Gesetz ist nur von «Dokument» die Rede. Dieses entspricht gemäss der Botschaft einer Datei, was praktisch alles umfassen kann. Der Bundesrat wird die zugelassenen Dateiformate in einer Verordnung festlegen.

Schreiber: Entscheidend ist: Mit der Digitalisierung kommen neue Prüf- und Bearbeitungs­routinen und damit auch neue Sorgfaltspflichten auf die Anwälte zu. Beispiel: Die Anwälte müssen offen­sichtlich gefälschte Beweismittel erkennen und sollten diese nicht einreichen. Das gilt auch für elektronische Beweismittel. Ich kann also nicht einfach ein Beweismittel eines Klienten ohne Prüfung weitergeben. Wir müssen elektronische Beweismittel auf den gesamten Inhalt prüfen. Bei einer Fotodatei müssen wir also auch Exif-Metadaten wie Informationen über den Zeitpunkt der Aufnahme, die Einstellungen, die Kamera und so weiter prüfen. Allein schon diese Triage mit Spezial­softwares ist aufwendig.

Bühler: Anwälte haben heute bereits dieselben Sorgfaltspflichten.

Schreiber: Nein, die konkreten Sorgfaltspflichten sind bei einem Papierdokument und einer Datei unterschiedlich. Eine Datei ist wie ein Eisberg – ein Teil ist für Laien ­erkennbar, der Teil «unter Wasser» kann unter Umständen nur mit Spezialsoftwares und spezifischem Wissen sichtbar gemacht werden. Und eine Datei präsentiert sich unterschiedlich, je nachdem, mit welcher Software man sie betrachtet. Das ist bei einem Stück Papier nicht der Fall.

plädoyer: Das wird den Aufwand in den Kanzleien erhöhen und damit auch die Kosten für die Klienten.

Schreiber: Davon gehe ich aus. Ich analysiere für den Bernischen Anwaltsverband die möglichen Mehrkosten für die Anwaltschaft, dabei habe ich gewisse Annahmen zu Sorgfaltspflichten und Arbeitsabläufen auch anhand von internationalen Standards getroffen. Mein Fazit: Es wird einen mas­siven Ausbau der Supportpro­zesse geben, also der betrieblichen Prozesse wie IT und Datenmanagement.

Bühler: Die Nutzung der Justizplattform ist für die Parteien und somit auch für die Anwaltschaft kostenlos. Der Bundesrat wird die Aufteilung der Kosten zwischen den Kantonen festlegen. Die jährlichen Betriebskosten der Plattform wurden auf etwa 7,4 Millionen Franken geschätzt. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften geben aktuell jedoch rund 20 Millionen Schweizer Franken jährlich für Portokosten aus. Wenn bis 2030 oder später die Hälfte der Posttransaktionen über die Plattform läuft, könnten die Einsparungen bei den Portokosten den Betrieb der Plattform finanzieren.

Schreiber: Wer die Einsparungen bei den Portokosten als entscheidenden Vorteil sieht, denkt nur an den elektronischen Rechtsverkehr. Der grösste Aufwand liegt bei allen Parteien in den Arbeiten, die vor und nach der elektronischen Eingabe auf uns zukommen. Es gibt Gerichte, die heute bereits bei einfachen Aufgaben wie dem Abspielen von proprietären Videoformaten Probleme haben. Die neuen Arbeitsabläufe und Anforderungen beispielsweise im Umgang mit elektronischen Beweismitteln werden auch in der Justiz zu erheblichen Mehrkosten führen.

Wenn ich das lese, ahne ich wenig Gutes für die unmittelbar bevorstehende Einführung von Justitia 4.0. Und ich meine nicht die Mehrkosten, die für uns und unsere Klienten anfallen werden.