Doch wieder zurück zum Anklageprinzip?
In Fünferbesetzung kassiert das Bundesgericht eine Verurteilung wegen Rassendiskriminierung (Art. 261bis StGB) wegen Verletzung des Anklageprinzips nach Art. 9 und Art. 325 StPO (BGer 6B_710/2015 vom 16.12.2015).
Ich will das Urteil wirklich nicht kritisieren, zumal das Anklageprinzip zentrale Bedeutung für ein faires Verfahren hat. Aber die Rechtsprechung zum Anklagegrundsatz erscheint bisweilen etwas beliebig:
Die Staatsanwaltschaft nimmt in Ziff. 10 der Anklageschrift gleichsam eine Zusammenfassung der neun Texte vor und legt darin dar, aus welchen Gründen der Beschwerdeführer wegen Rassendiskriminierung im Sinne von Art. 261bis StGB zu bestrafen sei. Den Ausführungen in der Anklageschrift kann jedoch nicht entnommen werden, welche einzelnen konkreten Äusserungen des Beschwerdeführers die Staatsanwaltschaft als tatbestandsmässig erachtet. Die Staatsanwaltschaft hätte diese einzelnen Äusserungen in der Anklageschrift auflisten müssen. Durch das von ihr gewählte Vorgehen erspart es sich die Staatsanwaltschaft, sich mit den einzelnen Äusserungen auseinanderzusetzen, und mutet sie dem Beschwerdeführer zu darzulegen, weshalb alle in der Anklageschrift wiedergegebenen Äusserungen nicht tatbestandsmässig seien. Eine Anklageschrift in dieser Darstellungsform erfüllt die Informations- und Umgrenzungsfunktion nicht. Die Verurteilung des Beschwerdeführers verletzt den Anklagegrundsatz (E. 1.5).
Gehört die Darstellungsform neuerdings zum Anklagegrundsatz? Das wäre sehr zu begrüssen. Aber wieso im vorliegenden Fall die Umgrenzungsfunktion verletzt sein soll, verstehe ich ehrlich gesagt nicht.
Es ist schwierig, hier überhaupt etwas folgern zu können, wenn man die Anklageschrift nicht vor sich hat. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass die Staatsanwaltschaft zwar die relevanten Passagen der Texte wiedergegeben, jedoch nicht dargelegt hat, welche Aussagen daraus nun im Einzelnen tatsächlich tatbestandsmässig sein sollen. Da es jedenfalls nicht Aufgabe des Gerichts ist, den Anklagegegenstand selbst zu definieren bzw. aus einem Konvolut an Vorbringen die mutmasslich relevanten Aussagen selbst “herauszusuchen” und damit auch selbst den Anklagegegenstand näher zu definieren, verlangt das BGer hier zu recht eine Klarstellung und hebt das Urteil auf. Die StA hätte den Sachverhalt ausführen und dann darlegen müssen, welche Aussagen im einzelnen der Anklage zugrunde gelegt werden (und weshalb diese tatbestandsmässig sein sollen).
Ich glaube eher, dass es hier um eine Eigenheit der Strafnorm ging und nicht um die Darstellung der Anklage.
Die Staatsanwaltschaft scheint eher ein Gesamtwerk und einen Gesamteindruck angeklagt zu haben. Der Rassendiskriminierungstatbestand stellt aber nur ganz spezifische Äusserungen unter Strafe. Insofern wurde hier (nach Meinung des Bundesgerichts) einfach Tatbestandsmerkmal schlecht bzw. falsch umschrieben.
Dass die Wiedergabe des ganzen publizierten Textes in der Anklageschrift nicht zulässig sein soll, kann ich dem Entscheid nicht entnehmen.
Aber gerade bei solchen “moralisch wertenden” Tatbeständen, in denen Anklage und Plädoyer fast schon zwingend vermischt werden, stellen sich ganz andere Probleme in Bezug auf das Anklageprinzip. Was gilt z.B. wenn das Gericht eine angeklagte Äusserung als tatbestandsmässig betrachtet, aber aus einem anderen Grund als der Staatsanwalt in der Anklage? Haben wir da nicht auch ein Problem mit der Informationsfunktion?
Es geht dem Gericht darum, das Delikt nachweisen zu können. Zu diesem Zweck reicht eine einzige Äusserung, die die Strafnorm für jedermann ersichtlich erfüllt, die der Angeklagte nachweislich geschrieben oder gesagt hat. Diese Äusserung zu benennen und im Sinne der Strafnorm wasserdicht zu bewerten ist die Aufgabe der Anklägerin und der Vorinstanzen. Die Äusserung zu benennen liegt – gemessen daran, dass bereits drei Instanzen sie nicht bezeichnet haben – möglicherweise in casu nicht auf der Hand. Falls prozessual vorgesehen, ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass auch die Vorinstanz zurückweisen wird.