Dringender Tatverdacht trotz Freispruchs

Das Bundesgericht schützt die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft im Berufungsverfahren selbst dann, wenn der Betroffene (Ausländer und damit fluchtgefährdet) erstinstanzlich freigesprochen wurde (BGer 1B_171/2015 vom 27.05.2015).

Das soll natürlich nicht heissen, dass der Freispruch völlig unbedeutend wäre. Das ist er nur haftrechtlich:

Zwar kommt dem erstinstanzlichen Freispruch bei der Beurteilung des dringenden Tatverdachts durchaus Gewicht zu: Da die erste Instanz bereits eine Beweiswürdigung vorgenommen hat, sind die Anforderungen an die Bejahung eines dringenden Tatverdachts im Verfahren nach Art. 231 Abs. 2 StPO höher als vor dem Vorliegen eines Urteils. Dies ändert aber nichts daran, dass der erstinstanzliche Freispruch noch nicht rechtskräftig ist und daher die Verdachtsgründe der Anklage nicht von vornherein umstossen kann. Die Frage des dringenden Tatverdachts entscheidet sich in solchen Fällen danach, ob trotz eines erstinstanzlichen Freispruchs gewichtige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich der Beschuldigte im Sinne der Berufung der Staatsanwaltschaft schuldig gemacht haben könnte (vgl. Urteil 1B_353/2013 vom 4. November 2013 E. 3.3). Dies ist unter Würdigung der Begründung des erstinstanzlichen Urteils und der im Berufungsverfahren vorgebrachten Argumente zu prüfen (vgl. in diesem Zusammenhang Markus Hug/Alexandra Scheidegger, in: Zürcher Kommentar StPO, 2. Aufl. 2014, Art. 231 N. 13a) [E. 5.3].

Wie würde ich mich wohl als Richter fühlen, der für den Freispruch verantwortlich war? Mir fällt dazu spontan ein Grundsatz ein, den das Bundesgericht nicht zu mögen scheint (Art. 212 Abs. 1 StPO):

Die beschuldigte Person bleibt in Freiheit. Sie darf nur im Rahmen der Bestimmungen dieses Gesetzes freiheitsentziehenden Zwangsmassnahmen unterworfen werden.

Liest man dann im Entscheid, der Beschwerdeführer habe die “Konzeption des Gesetzgebers” nicht verstanden, kommt man unweigerlich ins Grübeln:

Die Auffassung des Beschwerdeführers, wonach die Fortsetzung der Sicherheitshaft nach einem erstinstanzlichen Freispruch nur zulässig sein soll, wenn sich der Freispruch als klarer Fehlentscheid erweist, widerspricht der Konzeption des Gesetzgebers. Die Zulässigkeit der Sicherheitshaft nach Art. 231 Abs. 2 StPO ist an den allgemeinen Vorgaben von Art. 221 StPO zu messen (vgl. Urteil 1B_525/2011 vom 13. Oktober 2011 E. 2). Erforderlich, aber auch ausreichend ist mithin ein dringender Tatverdacht und ein besonderer Haftgrund (E. 5.3).

Vielleicht weiss das Bundesgericht ja auch bereits, dass das Obergericht den Freispruch nicht bestätigen wird.