Drohende Überhaft
Ausnahmsweise ist bei der Frage der Aufrechterhaltung von strafprozessualer Haft bei drohender Überhaft auch zu berücksichtigen, dass der Sachrichter auch eine bloss bedingte Freiheitsstrafe aussprechen könnte oder dass die Möglichkeit besteht, dass die Vollzugsbehörden eine Entlassung nach zwei Dritteln verfügen werden. Dass diese Faktoren in der Regel unbeachtlich bleiben müssen, was sachlich schwerlich zu begründen ist, bestätigt das Bundesgericht in einem neuen Entscheid. Es scheint aber die Ausnahmen etwas auszudehnen (BGer 1B_283/2015 vom 16.09.2015).
Im vorliegenden Fall kassiert es ein Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, dem es zusätzlich vorwirft, auf wesentliche Vorbringen des Beschwerdeführers gar nicht eingegangen zu sein. Hier aber die Begründung der Ausnahme:
Das Obergericht des Kantons Aargau hat im angefochtenen Urteil vom 10. August 2015 sowohl in der Sache selbst, als auch über das Gesuch um Haftentlassung befunden. Für die Frage der Berücksichtigung der bedingten Entlassung nach Art. 86 StGB bedeutet dies, dass das für deren Beurteilung massgebende Strafmass richterlich festgelegt wurde. Auf eine Würdigung anhand von Indizien und anderer Anhaltspunkte kann deshalb verzichtet werden. Mit der Verurteilung des Beschwerdeführers zu 4 ½ Jahren Freiheitsstrafe stand damit bereits im vorinstanzlichen Verfahren fest, dass die erstandene Haft nur zwei Tage nach der Urteilsfällung, das heisst am 12. August 2015, die für die bedingte Entlassung entscheidende Grenze von zwei Dritteln erreichen würde. Hinzu kommt, dass die bedingte Entlassung die Regel darstellt, von der nur aus guten Gründen abgewichen werden darf (BGE 133 IV 201 E. 2.2 f. S. 203 f.). Zwar sind die bei einem Rückfall allfällig bedrohten Rechtsgüter angesichts der Tatvorwürfe von Bedeutung, weshalb ein gewisses Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit und insbesondere der Geschädigten besteht. Es werden aber weder Umstände, die gegen eine bedingte Entlassung sprechen, geltend gemacht, noch gehen solche aus den Akten hervor. Insbesondere liegen keine einschlägigen Vorstrafen vor und die vorgeworfenen Straftaten scheinen eine Reaktion auf ein Einzelereignis gewesen zu sein. Auch die Staatsanwaltschaft führt in ihrer Stellungnahme vom 5. August 2015 aus, dass sie keine Einwände gegen die Haftentlassung des Beschuldigten habe. Vor diesem Hintergrund konnte sich die Vorinstanz nicht damit begnügen auszuführen, die Möglichkeit der bedingten Entlassung sei nicht zu berücksichtigen. Vielmehr wäre sie angesichts der eingangs wiedergegebenen Rechtsprechung (vgl. E. 3.2) gehalten gewesen, zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung mit grosser Wahrscheinlichkeit vorlagen. Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich daher, die Beschwerde gutzuheissen und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, um die Aufrechterhaltung der Haft resp. des vorzeitigen Strafvollzugs unter dem Aspekt von Art. 212 Abs. 3 StPO erneut zu untersuchen (E. 3.3).
Man müsste einfach die Ausnahme zur Regel machen. Dann müsste man nicht auch noch sachfremde Sicherheitsinteressen ins Feld führen. Abschliessend noch ein Zitat, das mich immer wieder amüsiert:
Der grossen zeitlichen Nähe ist auch deshalb besondere Beachtung zu schenken, weil der Strafrichter dazu neigen könnte, die Dauer der nach Art. 51 StGB anrechenbaren Untersuchungshaft bei der Strafzumessung mitzuberücksichtigen (BGE 133 I 270 E. 3.4.2 S. 281 f. mit Hinweisen) [. 3.2].