Durchsuchen ja, verwerten vielleicht
Das Bundesgericht heisst eine Beschwerde der OStA Zürich gegen einen abgewiesenen Entsiegelungsentscheid des ZMG gut, obwohl die OStA ihre Beschwerde im Grunde falsch begründet hat (BGer 7B_127/2022 vom 05.04.2024):
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist das von ihr zitierte Leiturteil BGE 148 IV 221 hier nicht einschlägig, waren doch die von C. erhaltenen Datenträger der ehemaligen B. AG in Liquidation nicht gesiegelt, als sie im Februar 2022 gespiegelt wurden. Nach der Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz befanden sich diese vielmehr während über 14 Monaten ungesiegelt in Gewahrsam der Strafverfolgungsbehörden, bevor sie am 8. Juni 2022 gesiegelt wurden. Zu diesem Zeitpunkt war die Siegelung der Datenträger aber bereits zwecklos geworden, denn die auf den Datenträgern angebrachten Siegel können, nachdem die Datenträger den Strafverfolgungsbehörden während einer solch langen Dauer zur freien Verfügung standen, nicht mehr gewährleisten, dass die Strafverfolgungsbehörden keine Kenntnis der auf den Datenträgern befindlichen Daten erhalten können bzw. konnten. Da die Datenträger gar nicht mehr rechtsgültig gesiegelt werden konnten, hätte das Zwangsmassnahmengericht das Entsiegelungsgesuch gar nicht in der Sache behandeln, sondern die sichergestellten Datenträger und deren Spiegelungen den Strafbehörden zur Durchsuchung und weiteren Verwendung freigeben müssen.
Ob die Staatsanwaltschaft dem Beschwerdegegner kurz nach Erhalt der Datenträger im März 2021 die Möglichkeit hätte einräumen müssen, einen Siegelungsantrag zu stellen, erscheint mit Blick auf die oben zitierte Rechtsprechung zweifelhaft, muss aber an dieser Stelle nicht abschliessend beurteilt werden. Das Sachgericht wird die Verwertbarkeit der Datenträger als Beweismittel gegebenenfalls im Sachurteil zu prüfen haben (E. 3.4, Hervorhebungen durch mich).
Die Datenträger werden nun also durchsucht, obwohl die Berechtigten noch gar nicht wussten, dass sie einen Siegelungsantrag stellen können. Korrektiv des Bundesgerichts: über die Verwertbarkeit wird der Sachrichter zu entscheiden haben. Dieses Ergebnis mag frühestens auf den zweiten Blick einleuchten, zumal das Bundesgericht vor der oben zitierten Erwägung ja auch folgendes sagt:
Damit die betroffene Person wirksam um Siegelung ersuchen kann, muss sie von den Strafbehörden rechtzeitig und ausreichend über ihre Siegelungsrechte informiert werden. Dies gilt insbesondere bei juristischen Laien (Urteile 1B_564/2022, 1B_569/2022 vom 14. Februar 2023 E. 3.1; 1B_393/2022 vom 30. Juni 2023 E. 3.1; je mit Hinweisen). Da auch Geheimnisschutzberechtigte, die nicht Gewahrsamsinhaber bzw. -inhaberinnen sind, die Siegelung verlangen dürfen, muss die Strafverfolgungsbehörde dafür sorgen, dass auch sie dieses Verfahrensrecht rechtzeitig und wirksam ausüben können. Sie hat daher nach der Entgegennahme bzw. Sicherstellung von Aufzeichnungen und Gegenständen (aber vor deren Durchsuchung) von Amtes wegen denjenigen Personen, die offensichtlich siegelungsberechtigt erscheinen, die Möglichkeit einzuräumen, ein Siegelungsbegehren zu stellen (vgl. BGE 140 IV 28 E. 4.3.5 mit Hinweisen; …) [E. 3.3].
Wichtig: Entsiegelung heisst nicht, dass die offenbarten Geheimnisse verwertbar sind:
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist bei rechtswidrigem Vorgehen im Zusammenhang mit der Siegelung von Aufzeichnungen und Gegenständen zwischen der Fortsetzung des Entsiegelungsverfahrens einerseits und der Verwertbarkeit von Beweismitteln andererseits zu unterscheiden. Bei schweren Verfahrensmängeln ist eine Fortsetzung des Entsiegelungsverfahrens ausgeschlossen und das Entsiegelungsbegehren abzuweisen (BGE 148 IV 221 E. 4; Urteil 7B_54/2023 vom 12. Oktober 2023 E. 4.1).
Logik des Bundesgerichts: Wenn ich also bei einer Bank den Tresor sprenge und das Geld raushole, ist das kein Diebstahl, die Tür war ja (nach der Sprengung) schon offen und das Geld habe ich einfach dort gefunden…