“Eher weit her geholt und wenig plausibel”?
Nach Art. 362 Abs. 4 StPO sind “Erklärungen, die von den Parteien im Hinblick auf das abgekürzte Verfahren abgegeben worden sind, […] nach der Ablehnung eines Urteils im abgekürzten Verfahren in einem folgenden ordentlichen Verfahren nicht verwertbar.”
Nach einem Scheitern des abgekürzten Verfahrens im Vorverfahren verlangte die Verteidigung, dass “sämtliche Aktenstücke, welche auf das gescheiterte abgekürzte Verfahren hinweisen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens unter separatem Verschluss zu halten und dem Strafgericht – selbst in gesiegelter Form – nicht zu übermitteln” seien. Dafür hatten weder das Obergericht ZH noch das Bundesgericht Verständnis, welches die Beschwerde sogar im vereinfachten Verfahren (!) zurückwies (BGer 1B_296/2020 vom 30.06.2020)..
Der Beschwerdeführer hält dafür, dass der Begriff der Parteierklärungen im Sinn von Art. 362 Abs. 4 StPO über den Wortlaut hinaus dahingehend ausgelegt werden müsse, dass alle Aktenstücke, die auf das abgekürzte Verfahren und dessen Scheitern hindeuten würden, aus den Strafakten entfernt werden müssten. Dieser Einwand ist zwar eher weit her geholt und wenig plausibel. Vor allem aber bleibt unerfindlich, inwiefern die richterliche Unvoreingenommenheit des Strafgerichts allein durch den Umstand in Frage gestellt werden soll, dass sich aus den ihm zur Verfügung stehenden Strafakten ergibt, dass ohne Erfolg versucht wurde, die Angelegenheit im abgekürzten Verfahren zu erledigen. Es ist weder ersichtlich noch dargetan, dass dem Beschwerdeführer ein nicht wiedergutzumachender Nachteil rechtlicher Natur droht, wenn das Strafgericht aufgrund von Aktenstücken darauf schliessen kann, dass ein abgekürztes Verfahren scheiterte (E. 2, Hervorhebungen durch mich).
Ich kenne die Beschwerdeschrift nicht, kann mir aber nur schwer vorstellen, dass die Eintretensvoraussetzungen nicht “dargetan” wurden. Aus den hervorgehobenen Erwägungen des Bundesgerichts könnte man aber schliessen, dass es die Problemstellung nicht erfasst hat. Es ist doch angesichts der Voraussetzungen für das abgekürzte Verfahren von höchstem Interesse eines jeden Beschuldigten, dass dem Sachrichter nichts bekannt sein darf, was auf ein abgekürztes Verfahren hinweist (vgl. Art. 358 Abs. 1 StPO). Für den Einzelrichter des Bundesgerichts ist das aber nicht evident, sondern “eher weit her geholt und wenig plausibel.”
Dartun hätte der beschwerdeführer müssen, inwiefern ein nicht wiedergutzumachender nachteil rechtlicher natur vorliegt. Dieser wäre wohl am ehesten wie folgt zu umschreiben: allein die tatsache, dass der beschuldigte überhaupt nur in erwägung gezogen hat, den sachverhalt einzugestehen (das ist eine der voraussetzungen des abk. Verf.) könnte dazu führen, dass das strafgericht voreingenommen ist. Gerade so gut könnte aber auch spekuliert werden, dass das strafgericht denkt, dass der sachverhalt eben doch nicht so klar ist und der beschuldigte ehrlich der ansicht ist, er sei es nicht gewesen. Der nachteil rechtlicher natur (voreingenommenheit) erscheint insofern tatsächlich eher spekulativ und liegt nicht auf der hand. Mir scheint daher der entscheid des bg vertretbar zu sein.
@Spekulatius: möglich. Wie gesagt, ich kenne die Beschwerdeschrift nicht. Aber den Anwalt und der kann sowas.
Es ist schlechthin befremdlich, dass sich das Bundesgericht über den klaren Wortlaut des Gesetzes derart lapidar hinwegsetzt. Ohne jeden Zweifel darf der Sachrichter nichts von einem abgekürzten Verfahren wissen, denn natürlich gibt es dieses: a.) nur auf Antrag des Beschuldigten (Art. 358 Abs. 1 StPO) und b.) nur gegen Geständnis (Art. 358 Abs. 1 StPO). Weis der Sachrichter also von einem im Raum stehenden abgekürzten Verfahren, so ist ihm eine grds. bestehende Geständnisbereitschaft der beschuldigten Person bekannt – und jeder Freispruch in weite Ferne gerückt.
Ach das ist doch im Grundsatz nichts neues….ein Dokument das Strafbefehl heisst istbjanin Tatbund Wahrheit auch nur eine Offerte, wie der vom BGE oft zitierte Normale Sorachgebrauch eines durchschnittlich Intelligenten, das Wort StrafBEFEhL (immer Dick geschrieben) mit einer Offerte in Einklag bringen soll, hat sich mir noch nie erschlossen, es geht halt nicht um Recht und die Wahrheitsfindung sondern um Prozessökonomie, da passt Täuschung gut ins Bild! Ansonsten würde man den Strafbefehl als Offerte zur Erledigung der Strafsache bezeichnen und man müsste Sie wie üblich Annahmen und nicht Ablehnen….das wäre wohl der Ökonomie abträglich, daher werden ja heute auch 95% der Verfahren ohne Rechtsstaatliche Gewaltentrennung direkt vom Ankläger entschieden….in Tat und Wahrheit ist die Schweiz ein usäglichet Unrrechtsstaat….
Das Problem stellt sich gar nicht, würde das abgekürzte Verfahren nur in den Fällen beantragt und durchgeführt, die der Gesetzgeber vorsah, nämlich dass bereits VOR Antrag auf abgekürztes Verfahren ein (Teil-)Geständnis vorliegt. Der deutsche Wortlaut von Art. 358 Abs. 1 StPO ist da nicht ganz eindeutig, wohl aber der französische (“le prévenu qui a reconnu les faits déterminants pour l’appréciation juridique”), der die Vergangenheitsform benutzt. Die Information, dass ein geständiger Täter ein abgekürztes Verfahren verlangt hat und dass dieses gescheitert ist, ist unproblematisch. Problematischer ist die Information, dass ein nicht geständiger Täter ein abgekürztes Verfahren verlangt hat und dieses durchgeführt worden ist. Aber eigentlich hätte dann sowieso kein abgekürztes Verfahren stattfinden dürfen, denn die in der Praxis weit verbreitete (Un-)Sitte, erst alles abzustreiten und dann im Hinblick auf ein abgekürztes Verfahren Geständigkeit in Aussicht zu stellen, ist vom Gesetzgeber gar nicht gewollt, das abgek. Verfahren sollte eigentlich nur den sowieso (teil-)geständigen Beschuldigten zu Gute kommen. Verteidigungstaktik in allen Ehren, aber wer partout nicht will, dass das Gericht sehen könnte, dass ein Geständnis zumindest erwogen wurde, soll halt keinen Antrag auf abgekürztes Verfahren stellen.
Im Übrigen gilt die Dokumentationspflicht (Art. 77 StPO). womit die Tatsache der Durchführung und des Scheiterns des abgek. Verfahrens zu dokumentieren sind. Sonst meint der neue Richter, der Fall sei 2 Jahre liegen gelassen worden und der Beschuldigte würde (rechtsmissbräuchlich, aber erfolgreich) eine Verletzung des Beschleunigungsgebots monieren.
@Botschafter: Theoretisch haben Sie sicher recht. Deshalb bin ich kein Freund des abgekürzten Verfahren und empfehle es praktisch nie. Ich halte es für verfehlt und für schlecht aufgesetzt. Aber so einfach ist es in der Praxis dann eben doch nicht. Das fängt damit an, dass es nicht die Verteidiger sind, welche die Taktik bestimmen oder anpassen oder ändern. Zu beachten ist auch, dass oft nur ein ganz kleines Sachverhaltselement bestritten ist oder auch nur die Rechtsfolge (v.a. bei Wirtschaftsstrafverfahren). Kann ich gestehen, dass meine Täuschung arglistig war? Damit entscheidet sich, ob ich ein paar Jahre absitzen muss oder freigesprochen werde (gesellschaftlich und finanziell ruiniert bin ich in beiden Fällen). Es ist viel komplizierter als es nach Ihrer Darstellung erscheint.