Ehrverletzung durch Unterlassen?
In einem heute publizierten Urteil kassiert das Bundesgericht die Verurteilung einer Frau wegen Verleumdung, welche in einem Gespräch mit der Lehrerin ihrer Schwester von einer Anzeige gegen einen Dritten wegen sexuellen Missbrauchs berichtet hatte (BGer 6B_4/2016 vom 02.05.2016). Obwohl die Frau wusste, dass die Anzeige nicht zu einer Verurteilung des nachmaligen Privatklägers führte, hat sie diesen Umstand verschwiegen.
Den Anklagesachverhalt zitiert das Bundesgericht wie folgt:
“X.A. erzählte Frau B., der Lehrerin ihrer Schwester C., an einem Sonntag Abend im Januar 2014, dass A. schon eine Anzeige gehabt habe wegen sexuellem Missbrauch, und verschwieg, dass das Verfahren ohne Verurteilung geendet hatte, obwohl sie dies gemäss eigenen Angaben aus dem Verhalten der damaligen Anzeigerin D. schloss und gemäss den Aussagen ihrer Mutter und Grossmutter von ihnen wusste.”
Das Bundesgericht befasst sich zunächst mit Sachverhaltsrügen, die aufgrund der Komplexität nur schwer nachvollziehbar sind. Dann stellt und beantwortet es die Frage nach der Unterlassung:
Zu prüfen bleibt, ob die Beschwerdeführerin durch “Nichtsagen” und damit durch Unterlassung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 StGB eine Verleumdung begangen haben könnte. Eine pflichtwidrige Untätigkeit lässt sich jedoch kaum annehmen. Es kann der Beschwerdeführerin “nach den Umständen der Tat” auch nicht derselbe Vorwurf gemacht werden, “wie wenn sie die Tat durch ein aktives Tun begangen hätte” (Art. 11 Abs. 3 StGB) [E. 4.6.3].
Ob das tatsächlich nicht eher als Handlung statt als Unterlassung zu deuten wäre? Es spielte aber letztlich wohl auch keine Rolle:
Zusammenfassend ist festzustellen, dass erstens keine eindeutige Äusserung der Beschwerdeführerin nachgewiesen ist. Insbesondere lässt sich dieser Nachweis aufgrund der Aussage der massgeblichen Adressatin nicht erbringen (X.B. kannte den Sachverhalt bereits aus familiären Diskussionen). Zweitens lässt sich der vom Tatbestand des Art. 174 StGB vorausgesetzte subjektive Sachverhalt nicht zweifelsfrei erstellen. Drittens äusserte sich die Beschwerdeführerin in einem Rahmen, in welchem sie ihre Ängste um die Schwester offen darlegen durfte. Es fehlt damit an einer Tatsachengrundlage im Sinne von Art. 174 StGB (E. 4.7).