Ein bisschen Untersuchungsgrundsatz

Nach Art. 429 StPO sind Entschädigungsansprüche von Amts wegen zu untersuchen. Das heisst aber offenbar nicht, dass damit auch der Untersuchungsgrundsatz gelten soll. Offenbar gilt der nur, wenn es zum Nachteil der beschuldigten Personen gereichen könnte.

In einem neuen Urteil formuliert es das Bundesgericht so (BGer 6B_666/2014 vom 16.12.2014):

Aus dem Hinweis in Art. 429 Abs. 2 Satz 1 StPO, wonach die Strafbehörde den Entschädigungsanspruch von Amtes wegen zu prüfen hat, folgt nur, dass sie die Partei zur Frage der Entschädigung mindestens anzuhören und gegebenenfalls gemäss Art. 429 Abs. 2 Satz 2 StPO aufzufordern hat, ihre Ansprüche zu beziffern und zu belegen (Urteil 6B_726/2012 vom 5. Februar 2013 E. 3). Dies bedeutet indessen nicht, dass die Strafbehörde im Sinne des Untersuchungsgrundsatzes von Art. 6 StPO alle für die Beurteilung des Entschädigungsanspruchs bedeutsamen Tatsachen von Amtes wegen abzuklären hat. Vielmehr obliegt es dem Antragsteller, seine Ansprüche zu begründen und auch zu belegen (vgl. auch Art. 126 Abs. 2 lit. b StPO, wonach die Zivilklage der Privatklägerschaft auf den Zivilweg verwiesen wird, wenn sie nicht hinreichend beziffert oder begründet ist). Dies entspricht denn auch der zivilrechtlichen Regelung, wonach wer Schadenersatz beansprucht, den Schaden zu beweisen hat (Art. 42 Abs. 1 OR). Nur wenn sich der Schaden nicht ziffernmässig nachweisen lässt, ist er nach Ermessen des Richters mit Rücksicht auf den gewöhnlichen Lauf der Dinge und auf die vom Geschädigten getroffenen Massnahmen abzuschätzen (Art. 42 Abs. 2 OR) [E. 4.1].

Die Lehre fasst das Bundesgericht wie folgt zusammen:

Der Beschwerdeführer 1 scheint daraus abzuleiten, dass auch im Entschädigungsverfahren der Untersuchungsgrundsatz (Art. 6 StPO) gilt. In der Literatur wird zwar vereinzelt, wenn auch ohne nähere Begründung diese Auffassung vertreten. So schreibt etwa Niklaus Schmid (Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, Zürich 2013, N. 12 zu Art. 429 StPO) : “Es gilt also Untersuchungs- bzw. Offizial- (6), nicht aber Anklagegrundsatz”. Teilweise widersprüchlich argumentieren Stefan Wehrenberg/Irene Bernhard (in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011). Einerseits führen sie aus, es sei “also von Amtes wegen (…) zu prüfen, ob ein Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung der beschuldigten Person besteht, wie hoch dieser ist und ob er allenfalls herabgesetzt oder verweigert werden kann” (N. 10 zu Art. 429 StPO); andererseits vertreten sie die Auffassung, “den Freigesprochenen (treffe) jedoch eine Mitwirkungspflicht bzw. ein Mitwirkungsrecht zur Bemessung der Höhe des Entschädigungsanspruchs” (N. 31 zu Art. 429 StPO), und schliesslich wollen sie “für die Berechnung der Höhe der wirtschaftlichen Einbussen … die zivilrechtlichen Regeln” anwendbar erklären (N. 24 zu Art. 429 StPO). Yvona Grieser (in: Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 8 zu Art. 429 StPO) verweist zwar darauf, dass über den Anspruch auf Schadenersatz und Genugtuung von Amtes wegen zu entscheiden sei; sie scheint dies aber dahingehend zu verstehen, dass nicht der Untersuchungsgrundsatz zur Anwendung gelangt, über allfällige Ansprüche aber auch ohne ausdrücklichen Antrag zu entscheiden ist (im gleichen Sinn Riedo/Fiolka/Niggli, Strafprozessrecht, 2011, N. 3106). Andere Autoren verwenden zwar den Begriff des Untersuchungsgrundsatzes (so etwa Moreillon/Parein-Reymond, Code de procédure pénale, 2013, N. 28 zu Art. 429 StPO; Mizel/Rétornaz, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 59 zu Art. 429 StPO); Jeanneret/Kuhn, Précis de procédure pénale, 2013, N. 5083); sie erörtern aber nicht näher, welche Konsequenzen sich daraus für die Festsetzung und Bemessung der Entschädigung ergeben (E. 3.1).