Einspracherecht der geschädigten Person

Das Bundesgericht anerkennt im Strafbefehlsverfahren ein Einspracherecht der geschädigten Person (BGE 6B_188/2015 vom 30.06.2015, Publikation in der AS vorgesehen). Es orientiert sich dabei an Art. 382 Abs. 1 StPO und bewegt sich m.E. gefährlich nahe an der Grenze der Missachtung des historischen gesetzgeberischen Willens.

Rein sachlich ist die Lösung des Bundesgerichts (leider) natürlich richtig und auch mit dem Wortlaut des Gesetzes ohne Weiteres vereinbar (Art. 354 StPO):

Aus den vorstehenden Überlegungen ergibt sich, dass die in den parlamentarischen Beratungen vertretene Ansicht, wonach die Privatklägerschaft kein Interesse an der Einsprache gegen einen Strafbefehl haben kann, zu kurz greift (vgl. Thommen, a.a.O., S. 111). Obwohl ein Strafbefehl nie einen Freispruch enthält und darin nicht über Zivilforderungen entschieden wird, kann die Privatklägerschaft ein rechtlich geschütztes Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung haben – dies auch unabhängig von allfälligen Zivilforderungen. Es erscheint aufgrund der Systematik der Strafprozessordnung gerechtfertigt, die Privatklägerschaft zur Einsprache gegen einen Strafbefehl zuzulassen, wenn sie in einer analogen Situation gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO legitimiert wäre, ein Rechtsmittel zu erheben (…). Würde man anders entscheiden, wäre diejenige Privatklägerschaft, die Geschädigte eines Delikts ist, das im Strafbefehlsverfahren beurteilt werden kann (vgl. Art. 352 StPO), benachteiligt gegenüber einem Straf- und/oder Zivilkläger, der an einem ordentlichen Verfahren beteiligt ist. Während Erstere sich mit dem Strafbefehl abfinden müsste, könnte Letzterer zumindest an die zweite kantonale Instanz und allenfalls sogar – unter den Voraussetzungen von Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 5 BGG – an das Bundesgericht gelangen (E. 2.6).

Im konkreten Fall wendete sich die Beschwerdeführerin mit ihrer Einsprache in erster Linie gegen die rechtliche Qualifikation des Sachverhalts als Tätlichkeiten anstatt als einfache Körperverletzung. Das reicht, um die Legitimation zur Einsprache zu begründen, auch wenn im Strafverfahren keine Zivilansprüche geltend gemacht werden:

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die rechtliche Würdigung der Tat des Beschwerdegegners als Tätlichkeiten. Sie argumentiert, seine Handlung beziehungsweise die von ihr erlittenen Verletzungen würden den Tatbestand der (versuchten) einfachen Körperverletzung erfüllen. Ob der Beschwerdegegner wegen Tätlichkeiten oder (versuchter) einfacher Körperverletzung verurteilt wird, kann die Würdigung der von der Beschwerdeführerin erlittenen Beeinträchtigung beeinflussen. Der Tatbestand der einfachen Körperverletzung setzt in objektiver Hinsicht eine schwerere Beeinträchtigung voraus als der Tatbestand der Tätlichkeiten. Gemäss der Rechtsprechung hat die Beschwerdeführerin ein rechtlich geschütztes Interesse im Sinne von Art. 382 Abs. 1 StPO (vgl. BGE 139 IV 84 E. 1.1 S. 86), womit sie auch zur Einsprache gegen den Strafbefehl legitimiert war. Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht, indem sie in der Sache nicht auf die Berufung beziehungsweise die Einsprache der Beschwerdeführerin eintritt (E. 2.7).
Damit geht die Sache zurück an das Obergericht des Kantons Aargau, das neu zu entscheiden hat.