Entscheid ohne Akten
Das Obergericht des Kantons Aargau muss einen Fall zum dritten Mal neu beurteilen, diesmal nach entsprechender Empfehlung des Bundesgerichts wohl besser unter Beizug der Akten (BGer 6B_407/2015 vom 17.07.2015; vgl. meinen früheren Beitrag zum ersten Urteil des Bundesgerichts in dieser Sache):
Indem die Vorinstanz ohne Einsicht in die Strafbefehlsakten annimmt, die Staatsanwaltschaft habe um die Unzuverlässigkeit des Drogenschnelltests gewusst, verfällt sie in Willkür. Die Neuheit ist anhand des Strafbefehls sowie den diesem zugrunde liegenden Akten und Tatsachen zu beurteilen. Massgebend ist, was der zuständige Staatsanwalt konkret berücksichtigte (…). […]. Welche Tatsachen und Beweismittel der zuständige Staatsanwalt beim Erlass des Strafbefehls berücksichtigte, konnte die Vorinstanz daher nicht ohne Akten des Strafbefehlsverfahrens beurteilen. […]. Soweit sie ihre Sachverhaltsfeststellung ergänzend anhand eines Zeitungsartikels damit begründet, die Unzuverlässigkeit von Drogenschnelltests sei schon Jahre vor Erlass des Strafbefehls allgemein bekannt gewesen, verkennt sie, dass einzig relevant ist, ob der Staatsanwalt dies beim Erlass des Strafbefehls wusste und in seine Würdigung einbezog. Ob die Vorinstanz den Zeitungsartikel überhaupt hätte berücksichtigen dürfen, kann demnach offengelassen werden (E. 4.2).
Schade, dass das Bundesgericht nicht über die Berücksichtigung des Zeitungsartikels hat befinden müssen. In einem erstinstanzlichen Aargauer Strafurteil konnte ich zur Unterstreichung einer naturwissenschaftlichen Tatsache auch schon ein Wikipedia-Zitat lesen. Es bleibt zu hoffen, dass es sich hierbei um Einzelfälle handelt.
Ich glaube nicht, dass man in Lausanne damit ein Problem gehabt hätte. Wikipedia Zitate gibt es auch in publizierten Bundesgerichtsentscheiden, siehe BGE 141 V 37 S. 41.
Dort geht zwar nicht um eine naturwissenschaftliche Tatsache, aber das Bundesgericht kommt in der zentralen Frage ob eine bestimmte Sportart auch sicher ausgeübt werden kann, zu einer anderen Einschätzung als die Vorinstanz und stützt sich dabei auf vor allem auf die Definition der Sportart im Wikipedia Artikel ab.
Vielen Dank für den wertvollen Hinweis! Es ist kaum zu glauben, was eine Recherche auf der Internetseite des Bundesgerichts so hergibt. Das Bundesgericht zieht Wikipedia insbesondere herbei, wenn es den doppelten Pukelsheim erklärt (BGE 136 I 364 E. 3.2 S. 368), wenn es das Gefahrenpotential einer Auto-Scooter-Anlage bespricht (BGE 134 V 72 E. 3.1 S. 75) oder – nun wird es spannend – wenn es über das Imlochhammer- und das Rotationsspül-Bohrverfahren referiert (BGE 139 III 165 E. 4.3.2. S. 172).
Diese Interpretation der revisionsbegründenden “Tatsache” gemäss Art. 410 StPO durch das Bundesgericht erscheint mir jetzt doch etwas weitgehend. M.E. geht es dabei richtigerweise um neue Tatsachen bzw. Beweismittel bezüglich des abzuklärenden Sachverhalts selbst (also hier etwa: eine liegengebliebene “B-Probe” o.ä.) und nicht um die allgemeine Zuverlässigkeit einzelner Beweismittel und schon gar nicht darum, inwiefern der Staatsanwalt (oder der Richter) um diese wusste. Wie will man das Wissen des Staatsanwaltes im Zeitpunkt des Erlasses eines Strafbefehls im Übrigen auch zuverlässig überprüfen? Es eröffnen sich Myriaden von (mutmasslichen und abzuklärenden) Revisionsgründen: Wusste Jungrichter X. um die allgemeine Unzuverlässigkeit von Zeugenaussagen? Wusste Staatsanwalt Y. um die Ungenauigkeit von Geschwindigkeitsmessungen (mittels einer bestimmten Methode)? etc. Im Ergebnis führt dies zu einer (revisionsfremden) Plausibilitätsprüfung der Beweiswürdigung ex post. Das kann nicht sein.
Vielleicht will man beim unzuverlässigen Strafbefehl etwas grosszügiger sein bei den Revisionsgründen?