Erzwungenes Vortrittsrecht
In BGer 6B_453/2012 vom 19.02.2013 spricht sich das Bundesgericht für klare Verhältnisse und einfache Regeln im Strassenverkehrsrecht aus. Das führt dann zu Ergebnissen, die nicht immer einleuchten. Im vorliegenden Fall war das Verhalten eines beschwerdeführenden Automobilisten zu beurteilen, der im stockenden Kolonnenverkehr auf der Autobahn vom mittleren auf den linken Fahrstreifen wechseln wollte. Dabei kam es zur Kollision mit einem bereits auf diesem Streifen im Schritttempo herannahenden Unfallbeteiligten, der das Vortrittsrecht für sich beanspruchen konnte. Dem Beschwerdeführer wurde (nach einem erstinstanzlichem Freispruch) vorgeworfen, er habe beim Fahrstreifenwechsel die ihm obliegende Pflicht zur genügenden Rücksichtnahme gegenüber nachfolgenden Fahrzeugen verletzt.
Das Bundesgericht schützt diese Auffassung und weist auch den Einwand zurück, das Fahrzeug des Beschwerdeführers sei
im Zeitpunkt der Kollision bereits zu drei Viertel auf dem linken Fahrstreifen gewesen und habe stillgestanden, zielt ins Leere. Massgeblich ist die Situation bei der Einleitung und während des fraglichen Manövers. Gemäss den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz befand sich der Beschwerdeführer noch auf dem mittleren Fahrstreifen, als er das Fahrzeug des Unfallbeteiligten herannahen sah (…). Dieser kam nicht völlig überraschend mit überhöhter Geschwindigkeit herangefahren, sondern war ebenfalls im Schritttempo unterwegs (…). In der Folge kündigte der Beschwerdeführer die angestrebte Richtungsänderung zwar mittels Blinker und Handzeichen an (…). Dies enthob ihn aber nicht von der gebotenen Vorsicht (vgl. Art. 39 Abs. 2 SVG). Er räumte ein, der Unfallbeteiligte habe seine Fahrweise nicht gross geändert und sei immer näher gekommen. Die Vorinstanz hält zu Recht fest, der Beschwerdeführer habe nicht annehmen können, das herannahende Fahrzeug des Vortrittsberechtigten würde bremsen oder anhalten, um ihm den Fahrstreifenwechsel zu ermöglichen. Angesichts dieses Fahrverhaltens hätte der Beschwerdeführer vielmehr damit rechnen müssen, dass der Unfallbeteiligte nicht auf sein Vortrittsrecht verzichtet und ein Einspuren auf den linken Fahrstreifen ohne Behinderung oder sogar Gefährdung nicht möglich sein würde (…). Indem der Beschwerdeführer unter diesen Umständen gleichwohl den Fahrstreifen wechselte, dieses Manöver “erzwingen” wollte (.), nahm er nicht genügend auf den nachfolgenden Verkehr Rücksicht und missachtete das Vortrittsrecht des Unfallbeteiligten. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers waren die Verhältnisse gerade nicht mit der bei dichtem Stadtverkehr bestehenden, besonderen Lage vergleichbar. Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz herrschte stockender Kolonnenverkehr. Damit war das Verkehrsaufkommen sehr hoch, der Verkehr aber nicht flüssig. Ein Verzicht des Vortrittsrechts durch den Unfallbeteiligten lag insofern weder im Interesse der Flüssigkeit des Verkehrs noch der Verkehrs- oder Rechtssicherheit.
Das Bundesgericht beruft sich im Wesentlichen auf den in der AS nicht publizierten Entscheid 6B_10/2011 vom 29. März 2011:
Gemäss Art. 34 Abs. 3 SVG hat der Fahrzeugführer, der seine Fahrrichtung ändern will, wie zum Abbiegen, Überholen, Einspuren und Wechseln des Fahrstreifens, auf den Gegenverkehr und auf die ihm nachfolgenden Fahrzeuge Rücksicht zu nehmen. Er darf auf Strassen, die für den Verkehr in gleicher Richtung in mehrere Fahrstreifen unterteilt sind, seinen Streifen nur verlassen, wenn er dadurch den übrigen Verkehr nicht gefährdet (Art. 44 Abs. 1 SVG). Art. 44 SVG stellt eine Vortrittsregel dar. Dem seinen Streifen beibehaltenden Fahrzeugführer steht der Anspruch auf unbehinderte Fortsetzung seiner Fahrt zu (Urteil 6B_10/2011 vom 29. März 2011 E. 2.2.1 mit Hinweis auf: HANS GIGER, Kommentar Strassenverkehrsgesetz, 7. Auflage 2008, N. 2 zu Art. 44 SVG).
Ein Fahrspurwechsel ist nicht erst bei einer Gefährdung, sondern bereits bei einer Behinderung des übrigen Verkehrs untersagt. Derjenige, der sein Fahrzeug in den Verkehr einfügen, wenden oder rückwärts fahren will, darf andere Strassenbenützer nicht behindern (Art. 36 Abs. 4 SVG; vgl. Art. 14 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 [VRV; SR 741.11]). Entsprechendes gilt beim Wechseln des Fahrstreifens (Urteil 6B_10/2011 vom 29. März 2011 E. 2.2.1 mit Hinweis) [E. 2.2.1].
Um ein allfälliges Fehlverhalten des Unfallbeteiligten kümmerte sich das Bundesgericht übrigens nicht:
Das Strafrecht kennt keine Schuldkompensation (BGE 106 IV 58 E. 1 mit Hinweis) [E. 2.3].