Es lebe der Untersuchungsgrundsatz
In den Berufungen nach Art. 398 Abs. 4 StPO ist die Kognition des Berufungsgerichts beschränkt. Das kann dazu führen, dass das Bundesgericht sich primär mit dem erstinstanzlichen Urteil, das gar nicht Beschwerdegegenstand ist, auseinandersetzt und dem Berufungsgericht dann einfach Willkür vorhält. So geschehen in BGer 6B_1261/2023 vom 08.01.2025). Dem Beschwerdeführer wurde sogar erlassen, Beweisanträge zu stellen:
Dass der Beschwerdeführer keine ausdrücklichen Beweisanträge stellte, gereicht ihm dabei nicht zum Nachteil, hat doch das erstinstanzliche Gericht in Nachachtung des Untersuchungsgrundsatzes die belastenden wie die entlastenden Tatsachen mit gleicher Sorgfalt zu prüfen. Dieser Pflicht kam die erste Instanz in casu nicht hinreichend nach. Im erstinstanzlichen Urteil finden sich schliesslich weder Feststellungen zur Fahrgeschwindigkeit der Beteiligten, zum tatsächlichen Abstand zwischen den Fahrzeugen, noch zur Distanz, die unter den gegebenen Umständen (damit der Beschwerdeführer sein Auto hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug rechtzeitig hätte zum Stillstand bringen können) einzuhalten gewesen wäre. Die erste Instanz unterliess diesbezüglich sowohl die Befragung der beim Unfall anwesenden Ehefrau des Beschwerdeführers als auch eine Einvernahme des vorausfahrenden Fahrzeuglenkers als Auskunftsperson (dessen Ausführungen sind lediglich dem Polizeirapport zu entnehmen, eine parteiöffentliche Befragung unterblieb). Die Feststellung der ersten Instanz, wonach es bei einem “übergrossen” Abstand zu keinem Unfall gekommen wäre, erweist sich in Bezug auf den konkret eingehaltenen sowie den gebotenen Abstand als unspezifisch.
Damit schöpfte die erste Instanz die verfügbaren Beweismittel nur ungenügend aus und erstellte den massgeblichen Sachverhalt mangelhaft. Sie durfte unter diesen Umständen nicht in antizipierter Beweiswürdigung – alleine aufgrund des Ausbrechens des Hecks – pauschal auf eine unzureichende Distanz zum vorderen Fahrzeug schliessen. Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht, wenn sie in der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung keine Willkür erkennt. Sie hätte das erstinstanzliche Urteil aufheben und zur ergänzenden Beweisabnahme und Neubeurteilung zurückweisen müssen (E. 2.4.1, Hervorhebungen durch mich).
Es gibt eben doch keine aussichtslosen Beschwerden, nicht einmal gegen Urteile des Kantonsgerichts SG.
Wie der Fall 6B_1261/2023 zeigt, kann es in Ausnahmefällen vorkommen, dass ein Gericht auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag tätig werden muss. Dies gilt insbesondere dann, wenn
– der Sachverhalt “offensichtlich” ungenügend abgeklärt ist,
– wichtige Beweise fehlen, und/oder
– das Gericht seiner Pflicht zur objektiven Wahrheitsfindung nicht nachkommt.
Könnte man so nicht immer eine Willkürfestellung beantragen und argumentieren, dass die Beweise nicht eindeutig eine Schuld abklären z.B. unterlassene Sachverhaltsabklärung wie die Auswertung von Einvernahmen?
Unterlassene Sachverhaltsabklärung kommt immer wieder vor…
@Anonym: so ist es. Man weiss einfach nie, wann es so ist.