EU-Haftbefehl und gegenseitige Strafbarkeit
Die Anwälte Advocaten voor de Wereld VZW klagten vor den belgischen Gerichten auf Nichtigerklärung des belgischen Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl. Im Rahmen des Verfahrens wurde der EuGH um Vorabentscheidung ersucht. Die beiden Vorlagefragen lauteten wie folgt:
- Ist der Rahmenbeschluss vereinbar mit Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU, dem zufolge Rahmenbeschlüsse nur zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten angenommen werden können?
- Ist Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses insofern, als er bei den darin aufgeführten Straftaten die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit abschafft, vereinbar mit Art. 6 Abs. 2 EU, und zwar insbesondere mit dem durch diese Bestimmung gewährleisteten Legalitätsprinzip in Strafsachen sowie mit dem Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung?
In der Rechtssache C-303/05 vom 03.05.2007 liess der EuGH die Kläger auflaufen. Zur ersten Frage stellte der EuGH in Rz. 39 fest:
Die Auslegung, dass die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten durch Erlass von Rahmenbeschlüssen nicht nur in den in Art. 31 Abs. 1 Buchst. e EU genannten Bereichen zulässig ist, wird durch Art. 31 Abs. 1 Buchst. c EU bestätigt, wonach das gemeinsame Vorgehen „die Gewährleistung der Vereinbarkeit der jeweils geltenden Vorschriften der Mitgliedstaaten untereinander, soweit dies zur Verbesserung [der justiziellen] Zusammenarbeit erforderlich ist“, einschließt, ohne dass dabei zwischen den verschiedenen zur Angleichung dieser Vorschriften einsetzbaren Arten von Handlungen zu unterscheiden wäre.
Die zweite Vorlagefrage stand im Zusammenhang mit der Argumentation der Kläger, der Grundsatz nulla poena sine lege verlange, dass ein Delikt in beiden betroffenen Mitgliedstaaten strafbar sein müsse. Die im Rahmenbeschluss definierten Delikte seien nur ungenügend definiert. Dazu der EuGH:
50 Aus diesem Grundsatz folgt, dass das Gesetz klar die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen definieren muss. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen (vgl. insbesondere EGMR, Urteil Coëme u. a./Belgien vom 22. Juni 2000, Recueil des arrêts et décisions, 2000?VII, S. 1, § 145).
51 Nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses erfolgt bei den dort aufgelisteten Straftaten, „wenn sie im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind“, eine Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls und ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit.
52 Folglich ist, selbst wenn die Mitgliedstaaten zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses die Auflistung der Arten von Straftaten in dessen Art. 2 Abs. 2 wörtlich übernehmen, die Definition dieser Straftaten und der für sie angedrohten Strafen maßgeblich, die sich aus dem Recht „des Ausstellungsmitgliedstaats“ ergibt. Der Rahmenbeschluss ist nicht auf eine Angleichung der fraglichen Straftaten hinsichtlich ihrer Tatbestandsmerkmale oder der angedrohten Strafen gerichtet.
53 Demnach schafft zwar Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit für die dort aufgeführten Arten von Straftaten ab, doch bleibt für die Definition dieser Straftaten und der für sie angedrohten Strafen weiterhin das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats maßgeblich, der, wie im Übrigen Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EU niedergelegt sind, und damit den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen zu achten hat.