Eventualvorsatz oder bewusste Fahrlässigkeit?
Die Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit kann gemäss Bundesgericht “im Einzelfall schwierig” sein (BGer 6B_1159/2014 vom 01.06.2015), zumal die Wissensseite bei beiden Varianten identisch ist:
Sowohl der eventualvorsätzlich als auch der bewusst fahrlässig handelnde Täter weiss um die Möglichkeit des Erfolgseintritts bzw. um das Risiko der Tatbestandsverwirklichung. Hinsichtlich der Wissensseite stimmen somit beide Erscheinungsformen des subjektiven Tatbestands überein. Unterschiede bestehen beim Willensmoment. Der bewusst fahrlässig handelnde Täter vertraut (aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit) darauf, dass der von ihm als möglich vorausgesehene Erfolg nicht eintreten, das Risiko der Tatbestandserfüllung sich mithin nicht verwirklichen werde. Demgegenüber nimmt der eventualvorsätzlich handelnde Täter den Eintritt des als möglich erkannten Erfolgs ernst, rechnet mit ihm und findet sich mit ihm ab. Wer den Erfolg dergestalt in Kauf nimmt, “will” ihn im Sinne von Art. 12 Abs. 2 StGB. Nicht erforderlich ist, dass der Täter den Erfolg “billigt” (…) [E. 3.2].
Wer den Erfolg “will”, muss nicht auch “billigen”? Kann das wirklich richtig sein?
Ebenso zweifle ich an der Feststellung des Bundesgerichts, der Beweggrund liege ausserhalb des Vorsatzes:
Wie das Handeln motiviert ist, ändert im Übrigen für die Annahme des Eventualvorsatzes grundsätzlich nichts, da es sich dabei um kein Merkmal von Art. 12 Abs. 2 StGB handelt, was nicht bedeutet, dass die Eruierung des Motivs für das Verständnis der Tat nicht hilfreich ist. Wesentlich ist, dass der Täter den Erfolg “in Kauf nimmt” (Art. 12 Abs. 2 StGB) und nicht, ob er ihm unerwünscht ist, ob er ihn billigt oder ob er ihn aus anderen, nur ihm einsichtigen oder nicht einsichtigen, Gründen in Kauf nimmt. So kommt es etwa auf die innere Ablehnung nicht an, wenn der Täter auf das Ausbleiben des Erfolges nicht mehr vertrauen, sondern es sich bloss noch erhoffen konnte (NIGGLI/MAEDER, a.a.O., N. 56 zu Art. 12 StGB). Welches die Beweggründe der Tat waren, ist ohne Einfluss auf den Vorsatz (BGE 99 IV 266 E. I/5 S. 274). Der Beweggrund kann ausserhalb des Vorsatzes liegen (BGE 101 IV 62 E. 2c S. 66). Die Vorinstanz hat nach dem Motiv geforscht (oben E. 2.3.4) und ihre Erkenntnis bei der Beurteilung des subjektiven Tatbestands zulässigerweise (oben E. 3.3) berücksichtigt. Dennoch ist der Vorsatz zu unterscheiden von den Beweggründen, die zu ihm führen und die einzig für die Strafzumessung bedeutsam sein können, doch nichts darüber aussagen, ob der Vorsatz besteht oder nicht (HANS SCHULTZ, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, Erster Band, 4. Aufl. 1982, S. 193). [E. 3.6].
Klar, Vorsatz und Motiv sind zu unterscheiden. Dass aber das Motiv ausserhalb des Vorsatzes liegen könne, verstehe ich nicht.
Und besonders lustig wird es dann beim Versuch: Kann man versuchen, was man nicht billigt? Gar nicht anstrebt?
Der kürzlich verstorbene Strafrechtsprofessor Günter Stratenwerth brachte in
seiner Vorlesung – vor mehr als 40 Jahren – den Unterschied zwischen bewusster Fahrlässigkeit und Eventualvorsatz auf folgenden prägnanten Punkt. Der bewusst fahrlässig Handelnde denkt sich: “Es wird schon nichts passieren”; der mit Eventualvorsatz Handelnde sagt sich; “Na, wenn schon …””. M.E. ein gutes
Beispiel dafür, wie man einer komplizierten Konstellation mit einer einfachen
Formel beikommen kann.