(Eventual)vorsatz oder eben doch (bewusste) Fahrlässigkeit?
Kollege A. führte als Anwalt vor Arbeitsgericht Zürich einen Forderungsprozess gegen die ehemalige Arbeitgeberin seines Klienten, eine Bank. In diesem Prozess war u.a. streitig, ob die Bank Ende 2012 noch problematische Geschäftsbeziehungen mit US-Kunden gehabt hatte. Zu Beweiszwecken übergab der Kläger seinem Anwalt das Dokument “US-Exit-Report”, welches Informationen über geschützte Bankkundendaten enthielt. Kollege A. hat es als Beweismittel dem Arbeitsgericht ohne einlässliche Prüfung eingereicht und hat sich so gleich selbst an das Messer geliefert.
Das Obergericht hat den Kollegen zwar bereits zweimal freigesprochen. Wie schon den ersten Freispruch (vgl. dazu 6B_247/2019 vom 22.06.2020 und meinen früheren Beitrag) kassiert das Bundesgericht nun aber auch den zweiten (BGer 6B_899/2021 vom 26.01.2023, Fünferbesetzung). Das Bundesgericht kritisiert den vom Obergericht verneinten Eventualvorsatz (Art. 12 Abs. 2 StGB):
Bewusstes Nichtwissen = Wissen:
Die teilweise “bewusst blinde” Einreichung des Dokuments “US-Exit-Report” bzw. die bewusste Unterlassung seiner vollständigen Prüfung vor dessen Einreichung als Beweismittel im Wissen darum, dass dieses möglicherweise (ursprünglich) Daten enthalten hatte, die unter das Bankkundengeheimnis fielen, deutet darauf hin, dass der Beschwerdegegner die Einreichung eines Dokuments mit dem Bankkundengeheimnis unterstehenden Inhalten zumindest “für möglich” im Sinne von Art. 12 Abs. 2 StGB hielt (E. 3.6.1)..
Gleichgültige Hinnahme eines Risikos = Wille:
Aus der anwaltlichen Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung (Art. 12 lit. a BGFA) ergibt sich jedoch, dass ein Anwalt Dokumente, welche er von seinem Mandanten erhält und in einem Zivilprozess als Beweismittel einzureichen gedenkt, vollständig prüft und sich vergewissert, dass dort einerseits nichts steht, was die Beweiskraft des Dokuments schmälert (vgl. Urteil 6B_247/2019 vom 22. Juni 2020 E. 2.2), und es andererseits keine Informationen enthält, die einer gesetzlichen Geheimhaltungsverpflichtung unterliegen. Der Beschwerdegegner wusste, dass die fragliche Beweisurkunde (ursprünglich) möglicherweise Daten enthielt, die unter das Bankkundengeheimnis fielen. Unterlässt ein Anwalt in einer solchen Konstellation die vollständige Überprüfung der Beweisurkunde vor ihrer Einreichung im Prozess, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass es zu einer Verletzung des Bankkundengeheimnisses kommen wird. Vorliegend konnte der Beschwerdegegner nicht ernsthaft darauf vertrauen, dass die Tatbestandsverwirklichung nicht mehr eintreten würde. Indiz für ein ernsthaftes Vertrauen wären etwa Vorkehrungen zur Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung. Derartige Vorkehrungen sind vorliegend keine ersichtlich. Der Beschwerdegegner hat nach den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen (Art. 105 Abs. 1 BGG) bei seinem Klienten nicht etwa nachgefragt, ob dieser im fraglichen Dokument tatsächlich alle Kundendaten bereits abgedeckt bzw. geschwärzt hatte. Indem der Beschwerdegegner sich auf seinen Klienten “blind” vertraut und damit ein weitgehend ungeprüftes Dokument als Beweismittel im Forderungsprozess eingereicht hat, hat er nicht nur seine anwaltliche Sorgfaltspflichten gravierend verletzt (vgl. oben E. 3.6.2), sondern damit einhergehend ein besonders grosses Risiko der Verletzung des Bankkundengeheimnisses nach Art. 47 Abs. 1 lit. c BankG geschaffen. Die gleichgültige Hinnahme eines solchen Erfolgsrisikos übersteigt eine bewusste Fahrlässigkeit, bei der der Täter (pflichtwidrig unvorsichtig) darauf vertraut, der von ihm als möglich vorausgesehene Erfolg werde nicht eintreten (E. 3.6.3).
Das Bundesgericht würdigt letztlich einfach den Sachverhalt anders als die Vorinstanz, obwohl es sogar noch ausdrücklich darauf hinweist, dass es die
richtige Bewertung der tatsächlichen Umstände im Hinblick auf den Rechtsbegriff des Eventualvorsatzes nach ständiger Praxis mit einer gewissen Zurückhaltung (BGE 147 IV 439 E. 7.3.1 S. 449 mit Hinweisen) [E. 3.5.3].
Der von der Vorinstanz verbindlich festgestellte Sachverhalt ist m.E. als bewusste Fahrlässigkeit zu qualifizieren.