Fakten vor Recht
Die Schweiz ist auch deshalb kein Rechtsstaat, weil sich die wichtigsten Amtsträger nicht an Rechtssätze sondern an das Machbare halten. Dafür mag man gerade noch ein Restverständnis haben, wenn derart pragmatisch handelnde Amtsträger der Legislative oder der Exekutive angehören.
Schwer erträglich ist aber, wenn die Justiz fundamentale Rechtsgrundsätze aufgibt, nur um zum gewünschten (möglicherweise sogar vernünftigen, aber eben rechtlich unhaltbaren) Resultat zu kommen. Das ist nicht immer so evident wie im hier kürzlich besprochenen Entscheid (Individualrechte werden zum Schutz der Allgemeinheit missbraucht und damit geopfert), ist aber im Massnahmenrecht Programm. Damit fehlt jeder Druck, den an sich allseits bekannten Vollzugsnotstand zu beseitigen. Er wird einfach beschönigt bis kultiviert.
Ein neues Beispiel lieferte das Bundesgericht in der Altjahreswoche (BGer 6B_1001/2015 vom 29.12.2015). Es spricht sich gegen die Aufhebung einer stationären Massnahme aus, die m.E. absolut aussichtslos ist. Jede einzelne Rüge des Beschwerdeführers wird ohne nachvollziehbare Begründung abgeschmettert. Ziemlich ausführlich begründet wird nur verworfene Rüge der Verletzung des Beschleunigungsgebots. Das Bundesgericht macht das, indem es den Sachverhalt fragmentiert, die einzelnen Verfahrensschritte für sich prüft und die Gesamtdauer unberücksichtigt lässt.
Die Voraussetzungen der Massnahme begründet das Bundesgericht wie folgt:
Die Voraussetzungen für die Weiterführung der Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB sind nach wie vor erfüllt. Der Beschwerdeführer ist psychisch schwer gestört, behandlungsbedürftig und sozialgefährlich (E. 12.2).
Wenigstens war die Beschwerde nicht von Vornherein aussichtslos.
Fakten vor Recht. Dies trifft es ausserordentlich gut. Die Richter sind sich gar nicht bewusst, wie schädlich ihr Verhalten auf Dauer für das Rechtssystem selbst ist. Das Problem wird u.a. von Niklas Luhmann unter dem Titel „Folgenorientierung im Recht“, er nennt es auch bissig „Imagination mit Rechtskraft“, analysiert:
„Der Bürger wird auf Voraussicht der Entscheidungen des Rechtssystems verwiesen. Eben deshalb kann aber das Entscheiden dieses Rechtssystems selbst nicht wiederum nur auf der Voraussicht seiner eigenen Folgen beruhen. Das würde den Bürger nötigen, Voraussicht vorauszusehen“.
Das Recht verliert so allmählich seine Orientierungsleistung.
Ich würde sagen, die Schweiz ist ein Rechtsstaat, der manchmal versagt – menschliches Versagen halt. Immerhin dünkt mich, er versage in deutlich weniger als 50% der Fälle. Demnach ist die Schweiz mehr Rechts- als Unrechtsstaat. Oder was war noch mal das Gegenteil von Rechtsstaat?
Die Schweiz ist nicht einmal ein Unrechtsstaat. Das heisst nicht, dass die Schweiz ein schlechter Staat ist. Aber mit Recht hat sie wenig am Hut.
@malo: Gegenteil von Rechtsstaat ist Polizeistaat. Schutz der Polizeigüter vor Schutz der Individualrechte.
Merci. Man lernt doch nie aus 🙂
Lieber Herr Kollege Jeker
Sie sprechen aus meiner Seele! Gerade gestern habe ich einen Beschwerdeentscheid des Bundesgerichtes in einer Haftpflichtsache erhalten, welches zu Ihrem Thema Bände füllen würde;( pm; mitentschieden haben zwei Bundesrichterinnen aus dem gleichen Kanton wie das angefochtenen Urteil (BL)!!!)
Schlimm ist diese Entwicklung des “Systemes Rechtsprechung” tatsächlich!
Konturen des Rechts – und ganz besonders des Verfahrensrechtes (BGG) – sind kaum mehr erkennbar und justiziabel auch nicht nachvollziehbar einer Prüfung zugänglich; insbesondere weiss man nicht
– wie andere Rechtssuchende vor Bundesgericht Beschwerden begründen
– wie das Bundesgericht in anderen Fällen “Rügen” als genügend akzeptiert
– dies alles, weil man die Rechtsschriften nicht kennt!!
Dort wo abgeschmettert wird, wirtd schliesslich sogar der Rechtsvertreter (in Cash ich (bereits das zweite Mal)) in der öffentlichen Urteilspublikation gerade zu als “Lapi” dargestellt!
Und soll man auf Urteile des Bundesgerichtes überhaupt noch abstellen können, weiss man nie, ob das betreffende Urteil betreffend der gestellten Rechtsfrage überhaupt von vollständigem Sachverhalt ausgeht; im konkreten Fall wurde – tendenziös – nur jener Rüge-Sachverhalt wiedergegeben, welchen es abzuschmettern galt; Eventualstandpunkte wurden nicht erwähnt, geschweige denn geprüft.
Ein kleines Beispiel:
Das KG BL hatte in einer ersten Berufung – zurecht – die kausalrechtlichen Überlegungen der ersten Instanz vollständig verworfen und die Sache zu neuer Beurteilung an die erste Instanz zurückgewiesen. Kausalrechtlich hatte sich die erste Instanz an der sozialversicherungsrechtlichen “Kausalitätslehre” des Bundesgerichtes (Einteilung der Unfälle in drei Kategorien, leicht mittel und schwer) orientiert und deshalb die Schadenfolgen massiv eingeschränkt (zeitlich beschränkt. Das Kantonsgericht BL hatte der ersten Instanz die Unterschiede zwischen Privathaftlicht und Sozialversicherungsrecht deutlich gemacht.
Deie erste Instanz hatte also neu zu entscheiden. Dabei wich diese Behörde auf einen anderen Begriff aus und betrachtete die Kausalität als “schwach”; in den Konsequenzen kam das zweite Urteil auf das selbe heraus.
Gegen das zweite (erstinstanzliche) Urteil wurde erneut Berufung geführt und dargelegt, dass die erste Instanz die privatrechtliche Adäquanz nach wie vor an sozialversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten messe. Das KG BL – wie auch nachfolgend ds Bundesgericht – blickte mit geschlossenen Augan daran vorbei und bestätigte das erstinstanzliche Urteil.
Das Bundesgericht nun führte aus und verwies auf ein Urteil (2007!!) der Sozialversicherungsrechtlichen Abteilung in der gleichen Sache (gleiche Beschwerdeführerin) gegen die SUVA , wonachder Unfall eigentlich als “leicht” hätte eingestuft werden müssen und erlaubt und gestattet es dem KG BL, an jenes Urteil anzuknüpfen; der verkappte sozialversicherungsrechtliche Ansatz iS Adäquanz der esrten und zweiten Instanz fiel somit durch!! Nota bene aber in klarem aktenkundigen Widerspruch zum Ersten Berufungsurteil des KG BL.
Ich muss hier meine Kommentare beenden; ich sagte es bereits: es füllt Bände!
Ihrer mutigen und fundamentalen Kritik am “System Rechtsprechung” schliesse ich mich jedenfalls vorbehaltlos an.
mit koll. Grüssen
DMT
Ergänzend dazu noch folgendes:
-das Bundesgericht verweist auf sozialversicherungsrechtliche Aspekte aus dem Jahre 2007, welche aktuell (zwischenzeitlich) aber vollständig aufgegeben wurde (neue Schmerzrechtsprechung!)!
Na ja! es geht eben um das Wünschbare – auf welche Seite diese Bemerkung auch immer zutrifft –; die Justiz wird merklich zum Bestandteil der Probleme, die sie eigentlich lösen sollte !!
An anderer Stelle hatte ich bereits öffentlich darauf hingewiesen:
-die Kantonsgerichte haben es in der Hand, in welcher Richtung sie ein Urteil lenken müssen, damit Rechtsschritte an das Bundesgericht – zufolge intransparenter Praxis zu sog. (match-entscheidenden) Sachverhaltsrügen – keine Chance haben:
“man muss nur genügend unbegründet/lückenhaft entscheiden”
“man muss nur genügend unvollständigen Sachverhalt im Urteil widergegen”
Vor Bundesgericht wird eine Beschwerde dann zur Herkulesaufgabe, wobei man dann sogar noch riskiert, als “Lapi” dargestellt zu werden!
Gruss:
DMT
DMT