Fehlende richterliche Neugier, überlastetes Bundesgericht
Erneut kassiert das Bundesgericht ein Urteil des Obergerichts ZH, weil Letzteres diejenige Person, welche mit ihren bestrittenen Aussagen das entscheidende Beweismittel lieferte, nicht befragte, was übrigens auch die erste Instanz nicht für nötig gehalten hatte (BGer 6B_693/2021 vom 10.05.2022):
4.5. Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung sowie Beweiswürdigung und damit letztlich die Verurteilung des Beschwerdeführers beruhen daher hauptsächlich auf den Aussagen der Beschwerdegegnerin 2, die sich aus den Einvernahmeprotokollen ergeben. Da die Polizisten den angeklagten Sachverhalt nicht direkt belegen und auch das gerichtsmedizinische Gutachten keine objektivierbaren Beweise liefert, handelt es sich vorliegend entgegen der Auffassung der Vorinstanz um eine klassische “Aussage gegen Aussage”-Konstellation bzw. um “Vier-Augen-Delikte”. Den Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 als Hauptbelastungszeugin kommt damit grundlegende Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund und angesichts der nicht unerheblichen Schwere der Tatvorwürfe erweist sich die unmittelbare Beweisabnahme durch die Vorinstanz im Sinne von Art. 343 Abs. 3 StPO für die Urteilsfällung als notwendig. Auch angesichts der diversen Widersprüche und Ungereimtheiten in den von der Beschwerdegegnerin 2 im Vorverfahren gemachten Aussagen erscheint die Abklärung der Glaubwürdigkeit der Hauptbelastungszeugin bzw. die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen mittels gerichtlicher Einvernahme als geboten. Dies gilt umso mehr, als dass bereits das erstinstanzliche Gericht auf die Durchführung einer Einvernahme der Beschwerdegegnerin 2 verzichtet und sich damit noch kein urteilendes Gericht einen unmittelbaren Eindruck von deren Aussageverhalten verschafft hat (Urteil 6B_1342/2017 vom 23. November 2018 E. 4; Urteil 6B_1469/2017 vom 18. Juni 2018 E. 1.4). Die Befragung der Beschwerdegegnerin 2 hätte es der Vorinstanz ermöglicht, einen persönlichen Eindruck von deren Aussageverhalten zu gewinnen, sie mit den Ungereimtheiten zu konfrontieren und die Unklarheiten zu klären. Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Beschwerdegegnerin 2 und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen hängt in entscheidendem Mass davon ab, ob sich die Unklarheiten plausibel erklären oder nachvollziehbar auflösen lassen, was die persönliche Einvernahme durch die Vorinstanz erforderlich macht.
4.6. Indem die Vorinstanz von der Einvernahme der Beschwerdegegnerin 2 absieht, verstösst sie gegen Art. 343 Abs. 3 StPO. Daran vermag nichts zu ändern, dass die Verteidigung des Beschwerdeführers den entsprechenden Beweisantrag erstmals vor der Vorinstanz stellte. Eine Befragung der Beschwerdegegnerin 2 setzt keinen ausdrücklichen Antrag seitens der Verteidigung voraus. Die Rechtsmittelinstanz muss dem Untersuchungsgrundsatz (Art. 6 StPO) nachkommen. Sie erhebt von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei die erforderlichen zusätzlichen Beweise (Art. 389 Abs. 3 StPO). Sie ist mithin verpflichtet, nicht nur auf Antrag, sondern von Amtes wegen für eine rechtskonforme Beweiserhebung und damit aus eigener Initiative für die entsprechenden Befragungen besorgt zu sein (Urteil 6B_145/2018 vom 21. März 2019 E. 2.4). Die Beschwerde erweist sich als begründet.
Das Bundesgericht “tagte” übrigens wieder in ausserordentlicher Besetzung. Offenbar müssen immer öfter Richterinnen und Richter aus anderen Abteilungen für die Strafrechtliche Abteilung tätig werden. Das ändert aber nichts daran, dass die Strafrechtliche Abteilung angesichts der Anzahl der Beschwerden weiterhin massiv überlastet ist. Die Anzahl der Beschwerden, welche die Abteilung zu entscheiden hat, lässt darauf schliessen, dass die Richterinnen und Richter kaum Zeit haben, sich mit den ihnen vorgelegten Rechtsfragen vertieft auseinanderzusetzen. Wenn das so ist – und die Mathematik legt es nahe – dann ist das absolut unhaltbar.
Einverstanden, es ist unhaltbar. Nachdem der zugang zum bundesgericht offenbar nicht beschränkt werden soll, gilt es jetzt halt aufzustocken. Und zwar nicht in typischer schweizer manier nur mit günstigen gerichtsschreibern und nebenamtlichen richtern, sondern auch mit hauptamtlichen richtern. Es braucht eine II. Strafrechtliche abteilung.
Richtig. An der Justiz zu sparen, ist unverantwortlich. Die Kosten der Justiz sind im Vergleich zu anderen staatlichen Ausgaben gering, der Nutzen des Rechtsfriedens (angefangen beim Vertrauen in die Justiz) dagegen enorm hoch. Die Gerichte sollen vom Friedensrichteramt bis zum Bundesgericht in jeder Beziehung gut bestellt sein. Als Gegenleistung darf gute Qualität erwartet werden.