„Fehlurteil“ begründet Fluchtgefahr
Ein Beschuldigter ist u.a. wegen passiver Bestechung und ungetreuer Amtsführung erstinstanzlich zu einer Freiheitsstafe von 6 1/4 Jahren verurteilt worden. Diese Strafe lag trotz etlicher Freisprüche über dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft. Dieses Sachurteil ist gemäss Bundesgericht geeignet, bisher offenbar nicht bestehende Fluchtgefahr – der Beschwerdeführer besuchte sogar Seminare im Ausland und hat nie Anstalten zur Flucht getroffen – zu begründen (BGer 1B_34/2013 vom 21.02.2013).
Ich will und kann damit nicht etwa sagen, das Sachurteil mit der über sechsjährigen Freiheitsstrafe sei ein Fehlurteil. Ich weise nur darauf hin, dass nach der Logik des Bundesgerichts auch willkürliche Justiz Fluchtgefahr begründen könnte. Das ist faktisch ja auch nicht falsch. Es kann aber m.E. nicht richtig sein, ein Sachurteil als hinreichend konkreten Fluchtgrund zu qualifizieren wie es das Bundesgericht zulässt:
Der Beschwerdeführer hat während des bisherigen Strafverfahrens und namentlich nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft am 26. November 2010 nicht versucht, sich der Strafverfolgung zu entziehen. Auch einen ihm nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft erlaubten Besuch eines Seminars ausserhalb der Schweiz hat er nicht zur Flucht genutzt. Weiter verneint die Vorinstanz nicht, dass der Beschwerdeführer seit der Entlassung aus der Untersuchungshaft die ihm mit den angeordneten Ersatzmassnahmen gemachten Auflagen beachtet hat. Wie der Beschwerdeführer sodann geltend macht, ist er nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft mit seiner Familie in eine günstigere Wohnung umgezogen, wobei er darauf geachtet habe, dass den Kindern ein Schulwechsel erspart bleibe. Ausserdem habe er zusammen mit seiner Ehefrau begonnen, Zeitungen auszutragen, um ein minimales Einkommen zu generieren. Dem Beschwerdeführer ist zuzugestehen, dass sein Wohlverhalten nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft für die Beurteilung der Fluchtgefahr nicht gänzlich bedeutungslos sein kann. Wie die Vorinstanz indessen zu Recht festgehalten hat, hat sich die Situation für den Beschwerdeführer mit der erstinstanzlichen Verurteilung insofern geändert, als er seither mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als zuvor mit einer langjährigen Freiheitsstrafe rechnen muss. Nicht zu beanstanden ist, dass die Vorinstanz in diesem Zusammenhang berücksichtigt hat, dass das erstinstanzliche Gericht den Beschwerdeführer zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt hat, obwohl es ihn von einigen Vorwürfen freigesprochen hat und dass die erstinstanzlich ausgesprochene Freiheitsstrafe nicht nur deutlich über dem Antrag des Beschwerdeführers liegt, sondern auch über dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Die Vorinstanz hat unter diesen Umständen zu Recht festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Flucht bzw. eines Untertauchens des Beschwerdeführers mit der erstinstanzlichen Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe deutlich gestiegen ist (E. 4.2.1).
Das Bundesgericht ist damit wieder ungefähr gleich streng wie die Strafprozessordnungen des 19. Jahrhunderts. Nach § 134 Abs. 2 StPO/SO vom 25. Oktober 1885 war der Haftgrund der Fluchtgefahr wie folgt umschrieben:
Der Verdacht der Flucht bedarf keiner weitern Begründung, wenn ein Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildet oder wenn der Angeschuldigte keinen festen Wohnsitz im Kanton hat.
Wo kämen wir denn hin, wenn jemandem der die PK-Gelder der Beamten / Richter im Kanton Zürich verschwendet hat, die theoretische Möglichkeit zur Flucht offengelassen würde. Die Objektivität und Unabhängigkeit wird damit selbstverständlich nicht tangiert.
Auch nicht, wenn der Vorsitzende, der dem Beschuldigten noch im Gerichtssaal verhaften liess, dies mündlich u.a. damit begründete, dass man ja nicht wisse, ob der Beschuldigte noch irgendwo Geld versteckt hätte (ein Gegenbeweis der wohl nur schwerlich zu erbringen wäre).
Der Verdacht, dass noch Geld versteckt sein könnte, wurde zudem mit einer „Milchbüebli-Rechnung“ begründet, welche seinesgleichen sucht und einen Betrag betrifft (rund 200k), der wohl kaum über Flucht oder nicht entscheiden würde.
Ich frage mich, weshalb das Bundesgericht überhaupt noch den immer gleichen Textblock – eine Flucht sei nicht nur möglich, sondern erscheine als wahrscheinlich, die Schwere der drohenden Strafe allein genüge nicht, den Haftgrund zu bejahen …. – bemüht, um die Fluchtgefahr in der Folge sowieso zu bejahen.
Bei (unbedingten) Freiheitsstrafen (und bei Ausländern) ist die Fluchtgefahr eigentlich immer gegeben, da kann man anführen was man wil (oder kennt jemand einen anderen Fall?).
Ich bin dafür, das Gesetz nach dem Muster von § 134 StPO/SO dieser Realität anzupassen.
Dem ist doch nicht ganz so – trotz Freiheitsstrafe und ausl. Staatsangehörigkeit hob das BGer neulich einen Haftentscheid auf: 1B_679/2012