Fehlurteile? In der Schweiz kaum möglich

Ein interessanter Artikel in der heutigen SonntagsZeitung setzt sich mit Unzulänglichkeiten von Zeugenaussagen in Strafprozessen auseinander. Eine Fehlerquelle liegt im Funktionieren des menschlichen Gedächtnisses, das Wahrgenommenes nicht unverändert wiedergeben kann. Eine andere Fehlerquelle sind Befragungstechniken, welche auf die Unzulänglichkeiten des menschlichen Gedächtnisses nicht eingehen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber nicht anwenden. Ergebnis: FEHLURTEILE.

Fehlurteile? Ja klar, in den USA. In der Schweiz gibt es sowas natürlich nicht. Die Gründe nennen die Experten, welche der Beitrag zitiert:

«Das Wissen um den richtigen Einsatz offener, aber auch geschlossener Fragen ist selbstverständlich», heisst es bei der Zürcher Kantonspolizei. Etwas skeptischer ist Christoph Ill: «Ich bin nicht sicher, wie weit zum Beispiel die Technik des Kognitiven Interviews in der Praxis eingesetzt wird», sagt der St. Galler Untersuchungsrichter, der das Nachdiplomstudium MAS Forensics am Competence Center Forensik und Wirtschaftskriminalistik an der HSW Luzern leitet. Dass es in der Schweiz nicht zu krassen Justizirrtümern wie im Fall Ronald Cotton kommt, hängt mit den unterschiedlichen Prozesskulturen zusammen. In den USA spielt das Geständnis eine absolut zentrale Rolle. Entsprechend arbeiten die Ermittler darauf hin – auch mit Methoden, die in der Schweiz nicht erlaubt sind. Bei uns muss ein Geständnis stets durch starke weitere Indizien gestützt sein. Zudem wird der Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten» stärker gewichtet. In der Schweiz ist deshalb die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unschuldiger verurteilt wird, viel geringer als in den USA, sagt die forensische Psychologin Henriette Haas. «Eher wird einmal ein Schuldiger nicht verurteilt.»

Meine Beurteilung als Strafverteidiger (ich behaupte einfach mal, dass ein Verteidiger näher dran ist als ein Ermittler oder Richter):

  1. Das Wissen um den richtigen Einsatz offener oder geschlossener Fragen ist kaum vorhanden, am ehesten tatsächlich noch bei der Polizei. Juristen neigen offenbar einfach dazu, wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Dies liegt vielleicht daran, dass noch immer nicht ganz unumstritten ist, ob die Jurisprudenz überhaupt als Wissenschaft gelten kann.
  2. Was ein kognitives Interview ist und wie man diese Technik einsetzt, weiss hierzulande kaum jemand.
  3. Das Geständnis ist auch in unserem Prozessrecht das zentrale Beweismittel, auf das natürlich mit genau den selben Methoden hingearbeitet wird wie in den USA. Wer den Freispruch eines geständigen Beschuldigten in der Schweiz kennt, teile mir das bitte mit.
  4. Dass die Unschuldsvermutung in der Schweiz stärker gewichtet wird als in den USA ist ein Schuss ins Blaue und trifft wahrscheinlich nicht zu. Dazu ein ganz aktueller Literaturhinweis: Beyond a Reasonable Doubt.
  5. Dass in der Schweiz die Wahrscheinlichkeit von Fehlurteilen angeblich viel geringer ist als in den USA könnte auch daran liegen, dass es in der Schweiz im Gegensatz zu den USA keine entsprechende Forschung gibt.

Spannend übrigens auch die Links der SonntagsZeitung:

Quelle: Sie können ihren Augen nicht trauen, SonntagsZeitung vom 04.02.2007, S. 77.