Frustrierte Strafverfolger und Richter

In der NZZ am Sonntag* war am Wochenende zu lesen, dass viele Strafverfolger und Richter das neue Sanktionenrecht des Strafgesetzbuches, insbesondere die (bedingte) Geldstrafe, für untauglich halten (vgl. dazu einen früheren Beitrag). Auch Bundespolitiker fordern bereits die Abschaffung der Geldstrafe, die sie nach Abschluss eines jahrzehntelangen Reformverfahrens eben erst per 1.1.2007 eingeführt haben. Dazu stellen sich mir u.a. folgende Fragen:

  1. Die Wirksamkeit des neuen Sanktionensystems kann nach knapp 18 Monaten seit Inkraftsetzung unmöglich beurteilt werden. Ich will ja nicht ausschliessen, dass es bereits Geldstrafen gibt, deren bedingt aufgeschobener Vollzug widerrufen werden musste. Aber statistisch aussagekräftiges Material kann es schlicht und einfach noch gar nicht geben. Was soll das Gejammer, das sich unmöglich auf Fakten stützen kann?
  2. Wieso kritisieren Polizisten, Staatsanwälte und Richter den Gesetzgeber und fordern härtere Strafen, obwohl deren präventive Wirkung alles andere als feststeht? Reicht es nicht völlig, wenn sie im (durchaus nicht so engen) Rahmen des Gesetzes ihre Arbeit machen und sich an die sonst so gerne beschworene Gewaltentrennung halten?
  3. Wieso fragt keiner die Betroffenen oder zumindest deren Anwälte? Im Gegensatz zu Strafverfolgern und Richtern geniessen die Verteidiger (manchmal) das Vertrauen ihrer Klienten und können die Wirkung einer Sanktion auf die Klienten besser beurteilen. Für Strafverfolger und Richter ist ein Fall abgeschlossen, nachdem das Urteil verkündet ist. Sie fragen die Verurteilten nicht, was sie vom Urteil halten.
  4. Wieso unterstützen die gleichen Kreise, die von der präventiven Wirkung des Strafrechts träumen, die zunehmende Bagatellisierung des Strafprozessrechts (Ausbau des Strafbefehlsverfahrens und insbesondere die faktische Abschaffung des Unmittelbarkeitsprinzips)?

Im eingangs erwähnten Artikel* machen allein die Ausführungen eines Bundesrichters Mut:

Wiprächtiger konterte: Gewiss, das neue System sei anspruchsvoller als das alte, und ja, es sei schwerer zu vermitteln. Aber für jemanden, der von 800 Franken Sozialhilfe lebe, tue ein Tagessatz von 10 Franken schon weh. Und in einem Anflug von Trotz fügte er an, dass das ein «vernünftiges, geglücktes Gesetz» sei, «das wir jetzt mit Leben füllen müssen». Man solle endlich aufhören mit der Verklärung der kurzen Gefängnisstrafe!

Er erinnerte an Deutschland, Österreich und Skandinavien, wo seit Jahrzehnten mit Geldstrafen operiert wird und die Rückfallquote so tief ist wie bei uns (etwa 6 Prozent). Er sagte das gerade so, als habe auch er mitunter die Worte Kohelets vor Augen. Wie heisst es da in Kapitel 1, Vers 10? «Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heisst: Sieh dir das an, das ist etwas Neues – aber auch das gab es schon in den Zeiten, die vor uns gewesen sind.»

* In der Dampfwolke des Frusts, NZZ am Sonntag vom 08.06.2008, 12.