Gebüsste Verteidiger
Ein amtlicher und ein privater Verteidiger eines Beschuldigten haben nach einem abgewiesenen Antrag den Gerichtssaal verlassen und damit den Abbruch der Verhandlung provoziert. Dafür wurden sie vom Verfahrensleiter, der den Antrag abgewiesen hatte, mit je CHF 1,000.00 gebüsst (Art. 64 StPO).
Hintergrund war, dass gegen 24 Mitbeschuldigte in getrennten Verfahren vorgegangen wurden. Die Verteidigung machte mehrfach bereits vor der Hauptverhandlung geltend, sie könne ihren Mandanten ohne Einsicht in die Akten der anderen Verfahren nicht wirksam verteidigen. In der Hauptverhandlung wurde der Antrag dann aber gutgeheissen. Ab hier wird es absurd.
Das Gericht hat die Hauptverhandlung nun nicht etwa unterbrochen, um die Einsicht in die beizuziehenden Akten zu ermöglichen, sondern wollte sogleich mit der Befragung des Angeklagten beginnen. Damit war die Verteidigung selbstverständlich nicht einverstanden, konnte sich aber nicht durchsetzen. Sie machten geltend (und das ist jetzt vielleicht nicht gerade das allerbeste Argument), damit habe für den Angeklagten die Gefahr bestanden, sich bei einer späteren erneuten Befragung nach umfassender Aktenkenntnis in Widersprüche zu verwickeln. Das konnte nur durch Provokation des Abbruchs verhindert werden. Das hat das Bundesgericht allerdings nicht überzeugt (BGer 1B_321/2015 vom 08.06.2016):
Dem kann nicht gefolgt werden. War der Beschwerdeführer der Auffassung, es bestehe eine derartige Gefahr, hätte er dem Angeklagten raten können, bei seiner ersten bezirksgerichtlichen Befragung von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen (Art. 113 Abs. 1 StPO). Damit wäre insoweit jede Gefahr von Widersprüchen beseitigt gewesen. Verweigert der Angeklagte die Aussage, dürfen ihm daraus nach der Rechtsprechung keine Nachteile erwachsen (BGE 131 IV 36 E. 3.1 S. 40; 130 I 126 E. 2.1 S. 128 mit Hinweisen). Namentlich darf sein Schweigen nicht als Indiz für seine Schuld gewertet werden (BGE 138 IV 47 E. 2.6.1 S. 51). Das Bezirksgericht gab dem Beschwerdeführer sodann Gelegenheit, nach späterer Einsichtnahme in die beigezogenen Akten Beweisanträge zu stellen. Er konnte somit den Angeklagten in Kenntnis sämtlicher Akten verteidigen.
War der Beschwerdeführer der Meinung, das Vorgehen des Verfahrensleiters verhindere eine wirksame Verteidigung, hätte er im Übrigen die zur Verfügung stehenden Rechtsmittel erheben können. Dass damit ein dem Angeklagten allenfalls drohender Nachteil nicht mehr hätte behoben werden können, legt der Beschwerdeführer nicht substanziiert dar und ist auch nicht erkennbar. Dem Beschwerdeführer standen demnach zur wirksamen Verteidigung des Angeklagten andere Mittel zur Verfügung als das Verlassen der Hauptverhandlung. Wenn die Vorinstanz angenommen hat, das Verhalten des Beschwerdeführers sei durch keinen „prozessualen Notstand“ gerechtfertigt gewesen, ist das daher nicht zu beanstanden (E. 4.4).
Jawdropping … ach übrigens: ob der private Verteidiger die Busse akzeptiert hat, geht aus dem Entscheid nicht hervor. Trifft ihn auch eine Anwesenheitspflicht?
Und was ist mit dem Verhältnis zwischen Disziplinarrecht nach StPO und Anwaltsaufsichtsrecht/Standesrecht? Dies beantwortet das Bundesgericht so:
Es würde zur Gewährleistung eines ordnungsgemässen Gangs des Verfahrens sowie von Ruhe und Ordnung während der Verhandlung nicht genügen, wenn die Verfahrensleitung bei einem eine Ordnungsbusse rechtfertigenden Fehlverhalten den Anwalt lediglich darauf hinweisen könnte, zu einem späteren, unter Umständen noch ferneren Zeitpunkt werde sich gegebenenfalls die Aufsichtsbehörde über die Anwälte mit der Angelegenheit befassen und dann möglicherweise eine Disziplinarmassnahme nach Art. 17 BGFA aussprechen. Die Verfahrensleitung kann das Fehlverhalten des Anwalts zudem aus eigener Anschauung beurteilen, was bei der Aufsichtsbehörde über die Anwälte nicht zutrifft. Auch dies spricht dafür, dass die Verfahrensleitung von ihren Disziplinarbefugnissen Gebrauch macht (…) [E. 5.5].
Wir Strafverteidiger versinken mit dem Segen des Bundesgerichtes in der Bedeutungslosigkeit und müssen dafür erst noch bezahlen und mit standesrechtlichen Konsequenzen – bis hin zum Patententzug – rechnen
Was wäre die Folge gewesen, wenn seine Anwälte nicht herausgegangen wären und der Beschuldigte schweigsam geblieben wäre? Hätte er damit seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verloren, mit der Begründung, er habe ja mindestens einmal die Möglichkeit gehabt, dem Sachgericht Fragen zu stellen und Einlassungen zu geben, oder hätte er nach ausreichend langer Kenntnisnahme der Akten aussagen können? Im ersten Fall haben die nur dem Beschuldigten verantwortlichen Anwälte mit dem Verlassen korrekt gehandelt, ihre Begründung dafür spielt keine Rolle. Dass die Anwälte anders hätten handeln können, ist richtig und ebenfalls irrelevant, denn das Recht auf Gehör ihres Mandanten ist formeller Natur. Im zweiten Fall allerdings nicht. Aus E4.4 und dem Rest des Urteils lese ich nichts dazu – als Anwalt „Beweisanträge zu stellen“ ist nicht das Gleiche, wie als Beschuldigter auszusagen. Was wäre die Folge gewesen?
Ich glaube, dass die Anwälte richtig gehandelt haben. Das Problem mit dem Bundesgerichtsentscheid liegt möglicherweise darin, dass der gebüsste Verteidiger vor Bundesgericht nicht besonders gut verteidigt war.