Gefährliche “Dissenting Opinions”

Dass die Forderung nach Transparenz nicht nur positive Aspekte hat, gilt auch im Bereich staatlichen Handelns, sicher auch für die Judikative, obwohl gerade für sie das Öffentlichkeitsprinzip einen besonders hohen Stellenwert haben muss.Im Kanton Solothurn hat der Kantonsrat gestern zwei Volksaufträge (0122-2016 und 0123-2016) für nicht erheblich erklärt, die mehr Transparenz in den solothurnischen Justizbetrieb bringen sollten. Lanciert von politisierenden Anwälten der SVP  waren es insbesondere die anderen politisierenden Anwälte, welche sich gegen die Volksaufträge stemmten und damit – vermutlich – auch die Auffassung der Justiz vertraten. Sie möge es ihnen danken.

Möglicherweise mehrheitsfähig war nur gerade ein Teil eines Volksauftrags, nämlich die Einführung der “dissenting opinions”. Die Grünen hielten den (angeblichen) Zwang zur dissenting opinion für gefährlich, denn ein Zwang könne dazu führen, dass Richter sich nicht mehr getrauen würden, ihre abweichende Meinung zu äussern, «da sie automatisch öffentlich werden würde» (vgl. die Berichterstattung der Solothurner Zeitung). Man geht offenbar davon aus, dass sich solothurnische Richter nicht getrauen, zu ihrer Auffassung zu stehen.

Der Regierungsrat wollte übrigens auch nichts wissen. Hier das Fazit aus der rein argumentativ erstaunlich bescheidenen Stellungnahme des Regierungsrats:

Die Forderung nach Aufnahme von „Dissenting Opinions“ in die Entscheidbegründung ist abzulehnen. Sie ist unserer Rechtstradition fremd, würde die Verfahren verlängern und verteuern, die Kollegialität schwächen, die Autorität der entscheidenden Behörden unterminieren und damit die Akzeptanz der Entscheide verringern. Zudem würde sie die richterliche Unabhängigkeit tendenziell gefährden. Ein Qualitätsgewinn wäre damit auch nicht verbunden.
Die Offenlegung von „Dissenting Opinions“ beim Bundesgericht wird nun (in sehr eingeschränktem Mass) von den Eidgenössischen Räten befürwortet. Dort macht eine solche Regelung auch am meisten Sinn, weil dort die Grundsatzurteile getroffen werden, welche die Rechtsentwicklung in der Schweiz vorantreiben können. Zumindest bei den kantonalen Gerichten halten wir „Dissenting Opinions“ hingegen aus den erwähnten Gründen für kein taugliches und erstrebenswertes Instrument.

Wäre ich Richter, würde ich es sicher sehr begrüssen, wenn ich meine abweichende Meinung publizieren könnte (wenn ich es müsste, wäre ich vielleicht nicht so dissenting). Andererseits: wäre ich Richter, würde ich sowas nie öffentlich sagen.