Gefährlicher Anwaltsberuf

Immer wieder wird versucht, Anwälte wegen pointierten Äusserungen in Gerichtsverfahren strafrechtlich zu verfolgen. Ein Beispiel zeigt BGer 6B_666/2011 vom 12.03.2012. In einem Scheidungsverfahren verwendete eine Anwältin folgenden Satz in einer Rechtsschrift:

Die ‚Bestätigung‘ von Herrn H. vom 2. Juni 2008 (…) und die daraus abgeleitete Behauptung sind unzulässige Noven. Das Schreiben wurde unter vom Rekurrenten bestellt (oder gar von ihm persönlich aufgesetzt) und ist eine blosse Parteibehauptung.

Diese Passage brockte ihr und ihrer Klientin einen Strafprozess ein, der zwar vor allen Instanzen mit Freispruch endete, aber fast vier Jahre dauerte.

Das Bundesgericht bestätigt den Freispruch. Es kommt zum Schluss, dass im oben zitierten Satz das Wort Umstände fehle und dass auch insgesamt aus der Rechtsschrift hervorgeht, er enthalte eindeutig Vermutungen und nicht blosse Behauptungen und Unterstellungen:

Insbesondere die Annahme, die Beschwerdegegnerin 1 habe lediglich eine Vermutung äussern wollen, liegt nahe, wenn man die weiteren – zu Beginn ebenfalls beanstandeten – Passagen berücksichtigt (vgl. Urteil, E. II.2.1 S. 5 f. und E. II.4.1.e S. 12). Diese sind eindeutig als Vermutungen formuliert, so dass sich die Schlussfolgerung aufdrängt, die Beschwerdegegnerin 1 lasse sich nicht zu blossen Behauptungen und Unterstellungen verleiten (E. 1.5.2).

Die Rechtslage fasst das Bundesgericht wie folgt zusammen:

Die Zulässigkeit einer ehrverletzenden Äusserung kann sich aus Art. 14 StGB ergeben. Gemäss dieser Bestimmung verhält sich rechtmässig, wer handelt, wie es das Gesetz gebietet oder erlaubt, auch wenn die Tat nach diesem oder einem andern Gesetz mit Strafe bedroht ist. Neben Richtern und Beamten können sich Prozessparteien bei allfälligen ehrenrührigen Bemerkungen auf ihre prozessualen Darlegungspflichten und damit auf Art. 14 StGB berufen. Die gleichen Befugnisse stehen dem Anwalt zu, der eine Partei vertritt, sofern seine Ausführungen sachbezogen sind, sich auf das für die Erläuterung des jeweiligen Standpunktes Notwendige beschränken, nicht wider besseres Wissen erfolgen und blosse Vermutungen als solche bezeichnen (BGE 135 IV 177 E. 4 mit Hinweisen). Innerhalb dieser Grenzen sollen die Anwälte die Interessen ihrer Mandanten auch pointiert vertreten dürfen, um die zu erläuternden Rechtspositionen nachhaltig auf den Punkt zu bringen. Hinzunehmen ist dabei ein gewisses Mass an übertreibenden Bewertungen und gar Provokationen, soweit sich die anwaltlichen Äusserungen weder als völlig sachwidrig noch als unnötig beleidigend erweisen. Diese „rhetorische Freiheit“ ist den Anwälten mit Rücksicht auf ihre berufsrechtliche Verpflichtung zur einseitigen Interessenwahrung ihrer Auftraggeber zuzubilligen. Sie sind zur Parteilichkeit, nicht zur Objektivität berufen (Urteile 6B_358/2011 vom 22. August 2011 E. 2.2.2; 6S.453/2004 vom 2. Mai 2005 E. 4.1; je mit Hinweisen). Der Rechtfertigungsgrund von Art. 14 StGB hat Vorrang vor dem Entlastungsbeweis im Sinne von Art. 173 Ziff. 2 StGB (BGE 131 IV 154 E. 1.3.1 mit Hinweisen) [E. 1.2].