Gemächliche Justiz
Bekanntlich halten sich die Strafbehörden nicht allzu strikt an die Fristen, die ihnen der Gesetzgeber auferlegt.
Besonders die 60-Tage-Frist zur Begründung von Strafurteilen (Art. 84 Abs. 4 StPO) wird immer wieder verletzt; mitunter massiv, wie ein Beispiel aus dem Kanton Aargau zeigt, der sich gegenüber den Rechtssuchenden ja besonders streng gibt (BGer 6B_176/2017 vom 24.04.2017):
Wie der Beschwerdeführer zu Recht vorbringt, hat das erstinstanzliche Gericht die Frist für die schriftliche Urteilsbegründung gemäss Art. 84 Abs. 4 StPO nicht eingehalten. Die Hauptverhandlung fand am 16. September 2014 statt, das begründete Urteil ging dem Beschwerdeführer am 7. August 2015 zu. Die Dauer von 11 Monaten für die Urteilsbegründung ist nicht nachvollziehbar und eindeutig zu lang. Sie verstösst trotz der Mehrzahl von zu beurteilenden Delikten und unbesehen der allfällig erhöhten Geschäftslast des erstinstanzlichen Gerichts gegen das Beschleunigungsgebot, zumal die Sache nicht besonders komplex erscheint. Die Vorinstanz äussert sich hierzu nicht (E. 2.2).
Der Entscheid wirft einige Fragen auf:
1. Aus meiner Erfahrung wird die 60/90-Tagesfrist sehr selten bis gar nie eingehalten. Dass man auf ein begründetes Urteil ein halbes Jahr oder länger wartet, ist bei den notorisch überlasteten erstinstanzliches Gerichten schon fast der Normalfall. Hier wäre wohl eher eine Gesetzesanpassung angezeigt.
2. Müssen die zweitinstanzlichen Gerichte (erst dann ist die Verletzung der Frist ja bekannt) nun in jedem Fall, in dem die Fristen überschritten wurden, im Dispositiv eine Verletzung des Beschleunigungsgebots feststellen?
3. Was hat der Beschuldigte eigentlich davon, wenn eine Verletzung des Beschleunigungsgebots zwar im Dispositiv steht, sich ansonsten aber in keinster Weise auswirkt?
@Lukas Traber
zu 1: in manchen Kantonen wird die Frist fast ausnahmslos gewahrt. Solothurn ist so einer.
zu 2: ja, ich denke das ist dann jeweils im Dispositiv festzustellen, wenn es überhaupt in Berufung geht.
zu 3: Die Feststellung verschafft dem Betroffenen die Genugtuung, dass die Justiz auch ihre eigenen Fehler sieht.
Höchstrichterliche Kosmetik. Der Beschuldigte bekommt ein Trostpflästerli in Form einer Erwähnung im Urteilsdispositiv. Ist wie bei den Kindern, die sich weh getan haben. Es nützt zwar nichts, aber wenn das Pflästerli schön ist, ist das Unglück schneller vergessen.
Die Justiz glaubt halt daran, dass es Befriedigung verschafft, wenn sie einen Fehler festhält. So ganz daneben ist das ja doch nicht, oder?
Wenn man sich überlegt, dass manche Beschuldigte im vorzeitigen Strafvollzug oder in Sicherheitsaft sitzen, hat es schon auch eine praktische Komponente, dass die Gerichte sich an diese Fristen zu halten haben.
Ich warte nun seit dem 12. Februar 2019 (heute 15.04.19) auf eine schriftliche Urteilsbegründung einer Gerichtsverhandlung, die knapp 15 Minuten dauerte zwischen mir und der Gerichtspräsidentin und der Gerichtsschreiberin. Ist das nicht unglaublich? Die 60 Tage sind verstrichen! WARUM kann man an diesem Punkt nicht einfach sagen, die Behörde hat ihren Job nicht gemacht, das Urteil, resp. die Anklage ist aufgehoben? Auch ich muss mich an Fristen halten! Für was gibt es die Stpo, es passiert den Gerichten ja eh nichts.
Das sind halt nur Ordnungsfristen. Ihre Verletzung ist allenfalls eine Verletzung des Beschleunigungsgebots. Aber einer der Gründe für die unglaublich träge Strafjustiz liegt bestimmt darin, dass behördliche Fristverletzungen keine nennenswerten Rechtsfolgen haben.
Es ist unverständlich, dass in einem Rechtsstaat die Stpo eigentlich so einseitig ausgelegt ist. Angeklagter, nur DU hast dich gefälligst an die Fristen zu halten, denn nur du spürst die Nichteinhaltung, resp. deren Folgen. Während die Gerichtsbehörden willkürlich tun und lassen können, was sie wollen. Folgenlos notabene. Das ist in meinen Augen eine Bananenrepublik und kein Rechtsstaat. Von Gleichbehandlung sind wir hier weit entfernt.
Mittlerweile sind 3 Monate um…
Jetzt sind dann 5 Monate um, immer noch keine schriftliche Urteilsbegründung, und mein “Vergehen” (nichts Schlimmes) jährt sich bereits zu ersten Mal. Warum ich mit dem Urteil der ersten Instanz nicht einverstanden bin, bezieht sich auf folgendes:
Strafbefehl Staatsanwaltschaft: 60 Tagessätze à 40 Franken (bedingt) und eine Busse von 600 Franken.
– habe ich angefochten wegen der Strafhöhe und weil sogar amtliche Dokumente fehlten
Gerichtsurteil Februar: 30 Tagessätze à 40 Franken (bedingt) und eine Busse von 300 Franken.
Beides um die Hälfte reduziert, tönt zwar gut, aber:
Ich soll dann für nicht einmal 20 Minuten Gerichtsdauer Gebühern+Auslagen von 626.50 UND eine Anklagegebühr von 450.00 bezahlen! Also soll ich jetzt 1’376.50 bezahlen, anstatt 600 wie im Strafbefehl. Das heisst, das Gericht halbiert mir den Strafbefehl zwar, setzt aber mehr als das doppelte an Gebühren drauf! Das kann es definitiv nicht sein. Das hat für mich als Bürger mit Rechtsempfinden nichts zu tun, verarschen kann ch mich selber. Und dass ich nun schon bald ein halbes Jahr auf die schriftliche Urteilsbegründung warte, spricht für sich.
@mkoch: Genau so funktioniert der Strafbefehl. Das Risiko einer Einsprache ist viel zu hoch und dabei spielt es keine Rolle, ob man im Recht ist oder nicht. Haben Sie das Urteil angefochten oder die Begründung verlangt?
ja natürlich, darum warte ich jetzt dann schon bald 6 Monate auf die Urteilsbegründung. Gemäss Stpo schon mehr als das doppelte…