Genugtuung für Überhaft
Überhaft ist auch dann zu entschädigen, wenn der Beschuldigte die Einleitung des Strafverfahrens veranlasst hat.
Die Oberstaatsanwaltschaft sah das anderes, wird aber vom Bundesgericht klar in die Schranken gewiesen (BGer 6B_182/2015 vom 29.10.2015):
Eine Entschädigung nach Art. 431 StPO entfällt nur bei den Umständen nach Art. 431 Abs. 3 StPO, und es ist irrelevant, ob dem Beschuldigten die Verfahrenskosten auferlegt werden (…). Mithin gelangt im Zusammenhang mit einem Anspruch wegen Überhaft Art. 430 StPO entgegen dem Dafürhalten der Beschwerdeführerin nicht zur Anwendung (…). Die Voraussetzungen von Art. 431 Abs. 3 StPO liegen hier klarerweise nicht vor (E. 1.3.3).
Überzeugend ist die Darlegung der Folgen, welche die Oberstaatsanwaltschaft gerne gesehen hätte:
Folgt man ihrer Argumentation, wonach Überhaft nur zu entschädigen sei, wenn „überhaupt ein Anspruch auf Entschädigung und/oder Genugtuung [nach Art. 429 StPO] besteht und dieser Anspruch nicht gestützt auf Art. 430 StPO herabgesetzt oder verweigert“ werde, bliebe die Haftdauer, welche die tatsächlich ausgefällte Sanktion überschreitet, bei teilweisen Freisprüchen regelmässig und bei vollständigen Verurteilungen stets ohne Konsequenzen (E. 1.3.4).
Was wurde denn da 72 Tage lang (!) untersucht?
Sehr geehrter Herr Jecker
Vielen Dank für den Post und allgemein Ihre Webseite, die sehr hilfreich ist (Ich bereite mich gerade auf die mündliche Anwaltsprüfung im Aargau vor.).
Meines Erachtens führt dieses Bundesgerichtsurteil aber zu einem wertungsmässigen Widerspruch: Bei teilweisen sowie bei vollständigen Verurteilungen ist eine Entschädigung wegen (rechtmässigem) Freiheitsentzug möglich, wenn ein Fall der Überhaft vorliegt, wobei eine Herabsetzung infolge eines prozessualen Verschuldens nicht möglich ist (E. 1.3.3 f.). Im vom Bundesgericht zitierten Basler Kommentar wird an anderer Stelle (N 3 zu Art. 431) aber auch geschrieben, dass wenn sich die Haft per se (d.h. die gesamte Haftdauer) als ungerechtfertigt herausstellt, weil die beschuldigte Person freigesprochen oder das Verfahren gegen sie eingestellt wird, Art. 429 StPO zur Anwendung komme (dem folgend auch die Anklagekammer St. Gallen, 12. Februar 2013, AK.2012.372). In diesem Fall ist aber eine Herabsetzung nach Art. 430 StPO zweifelsohne möglich. D.h., die vollständig freigesprochenen Person kann ihre Genugtuung für Untersuchungshaft (die dann ja insgesamt ungerechtfertigt war) lediglich auf Art. 429 Abs. 1 lit. StPO stützen, wobei ihr bei prozessualem Verschulden die ganze Genugtuung gestützt auf Art. 430 Abs. 1 lit. a StPO gestrichen werden kann. Demgegenüber steht für die teilweise oder vollständig schuldig gesprochene Person für den Fall der Überhaft auch Art. 431 Abs. 2 StPO zur Verfügung, wobei nach Meinung des Bundesgerichts ein prozessuales Verschulden irrelevant ist. Damit könnte die beschuldigte Person bei teilweiser (und gar bei vollständiger Verurteilung) hinsichtlich ihrer Genugtuung für ungerechtfertigte Untersuchungshaft besser fahren als die vollständig freigesprochene Person.
Das ist doch stossend oder stehe ich völlig auf dem Schlauch?
Freundliche Grüsse