Genugtuung nach Festnahme und anonymisierter Berichterstattung
Das Appellationsgericht BS hat einen Mann freigesprochen, ihm aber die geltend gemachte Genugtuung von CHF 500.00 verweigert. Der Freigesprochene erlitt einen Freiheitsentzug von knapp 24 Stunden. Zudem wurde über ihn in den Medien in anonymisierter Form negativ berichtet. Das Bundesgericht korrigiert die Vorinstanz soweit ersichtlich in jedem einzelnen Punkt (BGE 6B_491/2020 vom 13.07.2020, Publikation in der AS vorgesehen). Zunächst ist bei einer Festnahme mit einer Dauer von über drei Stunden ein Anspruch grundsätzlich erstellt:
Eine Anhaltung gefolgt von einer Festnahme, die sich auf eine Gesamtdauer von mehr als drei Stunden erstreckt, stellt einen Eingriff in die Freiheit dar, der zu einer Entschädigung Anlass geben kann. Nicht zu berücksichtigen ist die Dauer einer allfälligen formellen Befragung im Verlaufe dieser Stunden (BGE 143 IV 339 E. 3.2 S. 344 mit Hinweis) [E. 2.3.2].
Dabei sind auch die Auswirkungen auf die Persönlichkeit zu beachten:
Bei der Beurteilung der Auswirkungen auf seine Persönlichkeit gilt es einem weiteren Moment Rechnung zu tragen. Der Beschwerdeführer stand im Verdacht, beim homophob motivierten Übergriff seiner Kollegen mitbeteiligt gewesen zu sein. Dies wurde ihm denn auch anlässlich seiner Befragung eröffnet (“Es besteht der Verdacht, dass Sie und Ihre Kollegen im Schützenmattpark gezielt nach Homosexuellen suchten, um diese zu provozieren und zu schlagen”; vorinstanzliche Akten pag. 193). Dieser Vorhalt von wesentlicher Schwere rechtfertigt zusammen mit der verhängten Zwangsmassnahme einen Entschädigungsanspruch (E. 2.4).
Anspruchsberechtigt kann die Medienberichterstattung auch sein, wenn der Betroffene nicht namentlich genannt wird:
Soweit die Vorinstanz festhält, die Medien hätten den Beschwerdeführer nicht namentlich genannt und ihre Berichterstattung habe ihn deshalb in seiner Persönlichkeit nicht verletzt, ist aus prozessökonomischen Gründen Folgendes zu bemerken. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Vorverurteilung von Tatverdächtigen in der Medienberichterstattung je nach Schwere der Rechtsverletzung als Strafzumessungsgrund zu gewichten. Der Beschuldigte hat darzutun, dass die Berichterstattung ihn vorverurteilt hat (BGE 128 IV 97 E. 3b/aa S. 104 und E. 3b/bb S. 106; Urteil 6B_1110/2014 vom 19. August 2015 E. 4.3, nicht publ. in: BGE 141 IV 329). Eine allfällige Vorverurteilung wäre angesichts des Freispruchs bei der Festsetzung der Genugtuung nach Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO zu berücksichtigen. Insofern kann eine erhebliche Darstellung in den Medien eine Persönlichkeitsverletzung darstellen. Sie ist deshalb grundsätzlich geeignet, einen Entschädigungsanspruch zu begründen (E. 2.6.1).
Und schliesslich klärt das Bundesgericht auch noch über die Folgen der Verletzung des Beschleunigungsgebots auf:
Die Vorinstanz stellt eine leichte bis mittlere Verletzung des Beschleunigungsgebots fest (…). Relativierend erwägt sie, der Beschwerdeführer habe einzig eine Verurteilung zu einer bedingten Geldstrafe oder zu einer Busse zu befürchten gehabt. Dieser Umstand ist hier ohne Bedeutung. Die mit dem Strafverfahren einhergehende Belastung lag nicht im Strafmass, sondern vielmehr in der Ungewissheit einer möglichen Verurteilung und damit in den erstinstanzlichen Schuldsprüchen der Gehilfenschaft zu verschiedenen Delikten. Darauf braucht nicht näher eingegangen zu werden. Die Vorinstanz wird im Rahmen der Neubeurteilung und des richterlichen Ermessens dieses Kriterium prüfen müssen. Sie wird darzulegen haben, ob die festgestellte Verletzung des Beschleunigungsgebots für die Bemessung des Genugtuungsanspruchs relevant ist oder nicht (zur Verletzung des Beschleunigungsgebots vgl. BGE 143 IV 49 E. 1.8.2 S. 61, 373 E. 1.3 f. S. 377 ff.; je mit Hinweisen) [E. 2.6.2].
Ich sage immer, es ist einfacher einen Freispruch zu erstreiten, als die dazugehörige (angemessene) Entschädigung. Wovor fürchten sich die selbsternannten Hüter der Staatskasse eigentlich so?
@mlaw. Wir wollen keine amerikanische verhältnisse mit punitive damage und so und dass jede noch so kleine beeinträchtigung ein business-case wird bzw. Dazu gemacht wird.
Ad Entschädigung: Ihre gezahlten Entschädigung für Zwangsmaßnahmen und Haft haben nach meiner Meinung durchschnittlich die gleiche Höhe wie in Litauen. Man spricht für eine längere Hausdurchsuchung in Litauen umgerechnet 150 bis 300 Euro zu. In der Schweiz oft nicht anderes. Pro Tag Kerker sind 100 Euro bis 150 Euro vom Staat pauschal auszurichten. Das ist bei ihnen auch so. Dabei sind unsere Lebenshaltungskosten und Löhne weit geringer als in der Schweiz. Folglich finde ich ihre Entschädigungen nicht angemessen.
Es müsste ein Mittelweg geben und
Im Vorverfahren vermutlich die Angst vor dem Karriereschaden? und im Beschwerdeverfahren dann eher Angst vor dem Wähler? oder /und mentale Kassensäckelmentalität in der Erziehung zum Richtiger?
Obergericht Bern BK 2018 464
8.3.1 “Angesichts dieser Unklarheiten und der Tatsache, dass bei Bejahung der Kausalität möglicherweise mit einem grossen Schaden zu rechnen ist, rechtfertigt es sich nicht, allein auf Informationen des Beschwerdeführers bzw. auf von ihm eingereichte Unterlagen abzustellen. Dies könnte gegenüber dem Steuerzahler, der letztlich die Entschädigung finanzieren würde, nicht verantwortet werden.”
Nach Gesprächen mit ehemaligen Staatsanwälten in der Deutsch-Schweiz die dann andere Tätigkeiten machten, ist mir manchmal zu Ohr bekommen das die Leiter der Staatsanwaltschaften gerne “Forderungen” zu Amtlichen Verteidigung, Genugtuung und anderer Schadensersatz kürzen/ablehnen. So berichtete mir ein ehemaliger Staatsanwalt das stets seine Einstellungsverfügungen ( Entwurf) vom Leiter nicht genehmigt wurden meist mit Rücksprachen zur Höhe der Amtlichen Verteidigung und sehr oft dem Zins ab Schadensereignis. Man nenne das angeblich auch “Coachen”. Man bekomme dann als junger Staatsanwalt das Gespür für die vom Vorgesetzten erwünschten Entschädigungen in der Verfügungen und muss als StWA halt dann schauen ob man das mitmacht oder eben nicht.
In Litauen haben wir zum Glück nicht diese Honorarkürzungsmentalität in der Pflichtverteidigung (Amtliche Verteidigung), da wir unsere Forderungen bei einer von der Verfahrensleitung gesonderten Stelle nach niedrigen Pauschalen abrechnen. Es kommt hier auch kaum zu Ablehnungen zu den Forderungen. Der tatsächlich getriebene Aufwand bleibt aber meist unter den Einnahmen durch die Pauschalen.
@tades brasauskas. Mir scheint das system in litauen im ergebnis auf dasselbe hinauszulaufen wie in der schweiz. Der unterschied ist vielleicht, dass es in litauen klar ist, dass pauschalen geleistet werden, während in der schweiz die pauschalen lediglich in den köpfen der strafbehörden vorhanden sind. Transparenter und rechtssicherer wäre es wohl, auch in der schweiz ein pauschalsystem vorzusehen.
@ Tadez Brasauskas
Die Differenz aus den von mir 2019 fakturierten Beträgen sind 41% höher gewesen als die mir zugesprochenen Zahlungen vom Staat. Trotzdem lässt sich hier gut als Anwalt leben.
Schlimmer sind die Assurance protection juridique die bis zu 70% und mehr kürzen ( weshalb ich seit zwei Jahren keine Versicherungen mehr akzeptiere.
Beehrter Kollege Tades Brasauskas
wie hoch sind die pauschalen für die strafverteidigung und was sind die kosten einer 100% Bürokraft in ihrem land?
ad Anonymus
Eine Anwaltsgebühr im Strafverfahren beträgt in Litauen 62 Euro.-
Eine Verwaltungsgebühr (Kosten für Kommunikation +Büro +Reise) hat 13 Euro .-
Im strafrechtlichen Vorverfahren gibt’s für leichte Vergehen (schwere Straßen-Verkehrs-Delikte) 3 Gebühren zuzüglich 2 Verwaltungsgebühren. Bei schweren Vergehen ( sämtliche Antragsdelikte) sind es 5 Anwaltsgebühren zuzüglich 3 Verwaltungsgebühren, Für Verbrechen 7 Anwaltsgebühren zuzüglich 6 Verwaltungsgebühren und bei Kapitalverbrechen sind es 13 Anwaltsgebühren zuzüglich 11 Verwaltungsgebühren.
Je nach Komplexität des Falles können die gesprochenen Gebühren um bis zu 100% erhöht werden.
Eine geschulte Anwaltsassistenz kosten den Anwalt um die 1100 Euro im Monat.
Eine Erhebung der Umsatzsteuer kommt auf die Pauschalen in der Strafverteidigung nicht vor
@ Tadez Brasauskas
13 Anwaltsgebühren zuzüglich 11 Verwaltungsgebühren.
sind max. 1898 .- euro für ein schw. verbrechen weches wohl auch bei ihnen einen riesen aufwand generiert . das wirkt bescheiden. ich vermute einmal das die mieten weit geringer sind als bei uns hier.
ad Anonymus
Die Kalkulation stimmt so nicht. Es sind etwa 2000 Euro für einen komplexen Sachverhalt im Vorverfahren. Sie haben vergessen die Verwaltungsgebühren einzuberechnen.
In Kaunas kostet der m2 zwischen 4 in den Randregionen und 10 Euro im Stadtzentrum im Monat. Deutlich günstiger als bei ihnen. Ich kenne niemanden in meinem Bekanntenkreis der mit dem Geld nicht auskommt. Ich kenne aber tatsächlich auch keine Person im Anwaltskleid der damit große Sprünge macht, weshalb die jungen Juristen mit Anwaltsdiplom eher als Wirtschaftsanwälte in ausländischen Firmen Arbeit suchen. Dort kann mit viel weniger Aufwand ein ähnliches Einkommen generiert werden.
Ok, sagen mir mal 2000 Euro amtliches Honorar in Litauen für einen Mordfall bis Untersuchungsabschluss, inkl. Verwaltungsaufwand.
Zum Vergleich: Mordfall Rupperswil, Kanton Aargau. Geständiger Täter. Grosses tamtam in der Presse, aber vom Verteidigeraufwand vergleichsweise mit OK/WK-Grossverfahren ein relativ einfacher Fall:
CHF 115’112.00 amtliches Honorar für Untersuchung und erste Instanz gefordert. Weitere knapp CHF 10’000.00 amtliches Honorar für die zweite Instanz gefordert. Und diese Kosten schienen mir vergleichswese nicht einmal aussergewöhnlich hoch, da gibt es noch ganz andere Sachen, insb. von “Wirtschaftskanzleien”.
Ich hoffe, Sie sehen nun die Problematik. Das lässt sich auch nicht mit den tiefen Mietkosten im wunderschönen Kaunas rechtfertigen.
Ein skandalöses Urteil des Appellationsgerichts Basel-Stadt. Arbeiten dort auch Juristen oder nur Laien?