“Gepflogenheiten der Richter und Richterinnen am Bundesgericht”
Unter dieser Bezeichnung hat das Bundesgericht eine Art Ethikkodex beschlossen und veröffentlich. Die Gepflogenheiten betonen Unabhängigkeit, Würde, Zurückhaltung sowie Respekt und Kollegialität, aber auch vollen Arbeitseinsatz und Weiterbildung.
Die Bezeichnung des Papiers und auch einzelne Passagen werfen Fragen auf (“Gepflogenheiten” passt nicht und wieso die Richter vor den Richterinnen genannt werden, ist zumindest unüblich). Vielleicht sind sie einfach auf eine suboptimale Übersetzung aus dem Französischen zurückzuführen.
Beispielsweise den nachfolgenden Satz habe ich – und mein Französisch ist übel! – jedenfalls erst nach Konsultation des französischen Texts verstanden:
Sie tragen dem eigenen richterlichen Vorverständnis Rechnung.
Wie man das dann hinkriegen soll, verstehe ich aber auch auf so nicht.
Was mich auch irritiert ist der folgende Satz in diesem Text:
“Bundesrichter und Bundesrichterinnen nehmen Geschenke und Zuwendungen aller Art nur in insozial-üblicher Weise in einem Umfang entgegen….”. Was heisst das genau? Und Geschenke kann man, böswillig, auch als Bestechung ansehen.
Die ganze Sache ist wirklich unüberschaubar und meines Erachtens nicht zweckdienlich.
Jetzt wird mir (einmal mehr wieder) klar, warum Gerichte mitunter von Publikationen ihrer Praxis oder überhaupt Publikationen absehen. Sofort wird jedes Wörtlein auf die Goldwaage gelegt und ein Problem entsteht, wo vorher überhaupt keines war. Irgendein Detail wird auserkoren und zum Anlass genommen, irgendeine Polemik zu starten. Und recht machen kann man es wohl ohnehin nicht. Macht man keine Publikation, heisst es, man betreibe Kabinettsjustiz. Macht man eine Publikation, setzt man sich der Polemik aus. Es ist ein absolutes Detail, ob zuerst die Richter oder die Richterinnen genannt werden; besonders, wenn man ein gleichberechtigtes Selbstverständnis pflegt (ganz abgesehen davon, dass im Lauftext durchaus von Richterinnen und Richtern in dieser Reihenfolge die Rede ist). Die Ausnahme von sozialüblichen Geschenken ist zudem wahrlich nichts Neues und ist allgemein anerkannt. Es ist nicht erforderlich, dass dieser Begriff bis ins letzte Detail ausdifferenziert wird. Es ist der Witz von Begriffen, dass dem nicht so ist.
Sehr geehrte Richterin,
sehr geehrter Richter
Wo sonst als beim Bundesgericht wäre es angebracht, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen? Es ist gerade die Aufgabe von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern respektive von Gerichtsschreibern und Gerichtsschreiberinnen, sich so präzise wie irgendwie möglich auszudrücken. Das gilt unbestritten für die bundesgerichtliche Rechtsprechung, muss nach meinem Dafürhalten aber auch für andere offizielle Publikationen des Bundesgerichts gelten.
Die “Gepflogenheiten” lassen vieles offen, angefangen beim Titel der Publikation bis hin zur Frage der Geschenke. Für das Bundespersonal bestehen Vorschriften (Art. 93 BPV), die den Spielraum für Interpretationen weiter einschränken. In Unternehmen existieren teilweise ebenfalls Regeln, die sich verhältnismässig detailliert mit der Annahme von Geschenken befassen. Man kann natürlich den Standpunkt vertreten, dass solche Regelungen überflüssig seien und jeder schon selber wissen werde, was angebracht sei. Oder man kann klare, detaillierte Regelungen fordern. Was das Plenum der Bundesrichterinnen und Bundesrichter nun aber entschieden hat, entspricht einem unbefriedigenden Mittelweg, der vorgibt, Regeln aufzustellen, letztlich aber ein blosses Bekenntnis ist, an dem man aufgrund der vagen Formulierung kaum je gemessen werden können wird. Immerhin hoffe ich, dass die “Gepflogenheiten” Startpunkt für weitere Diskussionen sind…
Sehr geehrte Frau Oehen, sehr geehrter Herr Oehen
Aus meiner Sicht ist es eine Frage der Persönlichkeit, ob man genügend Sensibilität für die Herausforderungen hat, die ein Richteramt mit sich bringt. Dazu gehört, dass man den Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte verinnerlicht hat; man bereit ist, das Drama des Entscheids auszuhalten und ja, dass man sich bewusst ist, dass Geschenke problematisch sein können. All dies lernen oder besser werden Sie durch Erfahrung, Interesse (nicht nur an Jus im engeren Sinn), Aufgeschlossenheit; durch Hartnäckigkeit, wenn es nötig ist, und Nachgeben im richtigen Moment; durch ein Studium, welches nicht nur auf Pauken von Gesetzen ausgerichtet ist, und durch Lehrer, welche das Verantwortungsbewusstsein und die Autonomie des Einzelnen fördern. Wenn all das und noch mehr erfüllt ist, können Sie hoffen, eine Richterin oder einen Richter zu haben, welche oder welcher geeignet ist ein Amt zu übernehmen. Vielleicht übertreibe ich oder ziele an der Sache vorbei und in Tat und Wahrheit wird man, gleichsam durch eine wundersame Genverbindung, zum Richter/zur Richterin geboren. Aber eines weiss ich ganz bestimmt: Sie werden weder die Genverbindung noch die Bildung der Persönlichkeit mit einem Reglement erreichen, sei es auch noch so detailliert. Selbstverständlich spielen Gesetze und Reglemente für das Recht eine zentrale Rolle, zumindest nach kontinentaleuropäischer Auffassung. Das heisst aber nicht, dass jedes noch so kleine Detail ausdifferenziert werden muss, auch wenn dies womöglich einem gesetzgeberischen Trend entspricht. Vielmehr sollen Gesetze – und hier scheint mir, treffen sich unsere Ansichten teilweise – durch Statuierung von Begriffen den Diskurs moderieren, ohne ihn aber vorwegzunehmen.
Ich würde es so übersetzen: “Sie abstrahieren bei der Urteilsfindung von allfälligen eigenen Vorurteilen.”
Schwierig dürfte sein, seine fachliche Meinung von seiner privaten Meinung und von den eigenen Vorurteilen zu trennen – und, das sei hier auch noch hinzugefügt, von der Meinung der eigenen Partei, zu unterscheiden.
Einfacher wäre wohl:” Es sind unabhängige Geister gefragt.” Aber das wäre dann wohl sehr frei übersetzt und allenfalls in dieser Deutlichkeit doch nicht gewollt.
Gilt das mit dem Respekt auch gegenüber den Verteidigern? Das Bundesgericht kanzelt diese und zuweilen auch die Kantonsgerichte sprachlich doch regelmässig in völlig unnötiger Art und Weise ab.