Grundlose Präventivhaft – grundlose Ersatzmassnahmen
Was denken wohl Richter, die sich vom Bundesgericht folgendes anhören müssen (BGer 1B_155/2015 vom 27.05.2015):
Die Annahme von Wiederholungsgefahr setzt voraus, dass die Beschwerdeführerin überhaupt die Möglichkeit hätte, ihrer Tochter Gewalt anzutun. Das ist vorliegend nicht der Fall.
Mir fällt nichts ein.
Mir auch nicht. Wieso soll sie keine Möglichkeit haben, ihrer Tochter Gewalt anzutun, wenn diese fremdplatziert ist? Weil sie den Bus nehmen müsste?
Absurderweise wird die Beschwerde zwar gutgeheissen, im Prinzip aber mit der Begründung, dass die Ersatzmassnahme inhaltlich schon durch die KESB umgesetzt werde und die Gefahr damit schon gebannt sei:
“Zusammenfassend ist unter diesen Umständen auszuschliessen, dass die KESB der Beschwerdeführerin die Möglichkeit einräumt, mit ihrer Tochter unbeaufsichtigte Kontakte zu pflegen oder sie gar zu sich nach Hause zu nehmen, bevor sie sich davon überzeugt hat, dass die Beschwerdeführerin ihre elterlichen Verpflichtungen gegenüber ihrer Tochter vollumfänglich wahrnehmen kann und kein ernsthaftes Risiko dafür besteht, dass sie ihre Tochter misshandeln könnte.”
Sollte die Frau den Bus also nehmen, wäre jetzt jedenfalls die KESB schuld.
Als junger Richter wäre mir da ein Kraftausdruck über die Lippen, als bestandener hätte ich immerhin mit einem kräftigen Kopfschütteln reagiert: Der Entscheid ist kreuzfalsch. Sehen die Strafverfolgungsbehörden eine Gefahr, haben sie dieser mit den Mitteln der StPO zu begegnen. Sie können nicht auf die Reaktion einer anderen Behörde vertrauen, die die Situation aus einer anderen Optik betrachtet. Sie können auch nicht die Einschätzung der (Wiederholungs-)Gefahr quasi delegieren. Sie dürfen aber auch nicht der Einschätzung einer anderen Behörde ausgeliefert sein. Der Entscheid ist so falsch, dass der Platz nicht ausreicht, alle Argumente dagegen aufzuzählen.
Meines Erachtens ist das Urteil des Bundesgerichts im Ergebnis durchaus richtig, wenn auch allenfalls hinsichtlich der Begründung nicht allzu überzeugend formuliert. Die Idee des Gerichts ist wohl: Die Mutter war mit der Betreuung des Kindes überfordert und hat darum (angeblich) die Körperverletzungen begangen. Wenn sie das Kind aber gar nicht betreuen muss, weil es fremdplatziert ist, ist eine Wiederholung ihrer (angeblichen) Straftaten aber höchst unwahrscheinlich. Insofern ist m.E. durchaus zu berücksichtigen, ob das Kind in der Obhut der Mutter ist oder nicht – ein Kind zu schützen, das faktisch gar nicht gefährdet ist, wäre in der Tat unverhältnismässig. Es wäre auch widersinnig, wenn die KESB (begleitete) Besuche zulässt, das ZMG aber ein Kontaktverbot ausspricht.
Im Übrigen liesse der Wortlaut von Art. 221 Abs. 1 Bst c StPO Untersuchungshaft (bzw. Ersatzmassnahmen) im vorliegenden Fall an sich gar nicht zu. Die Mutter wird zwar verdächtigt, wurde aber noch nie wegen eines (gleichartigen) Delikts verurteilt – was eigentlich Voraussetzung für U-Haft wegen Wiederholungsgefahr bildet. Die Auslegung des Bundesgerichts ist halt wieder mal – nennen wir es – “grosszügig”.
Auch ich bin der Meinung, dass das Bundesgericht richtig entschieden hat und gar nicht anders entscheiden konnte. Man kann nach Art. 36 Abs. 3 BV nicht Präventivhaft anordnen, nur weil die Möglichkeit besteht, dass andere Sicherheitsmassnahmen versagen könnten.
Ich war zu wenig präzis: Das Ergebnis mag ohne Weiteres vertretbar sein, aber die Begründung ist so – gefährlich, weil die Verantwortlichkeiten vermischt werden – falsch, dass ich noch immer nicht aus dem Kopfschütteln herausgekommen bin.
Einverstanden, die Begründung ist nicht auf dem Stand, der vom Bundesgericht erwartet wird.